Zur psychologischen Analyse von Dostojewskis «Der Idiot»
Friedrich Liebling, Zürich
«Der Psychologe», Separatdruck aus Heft 12, Band VIII, 1956
Herausgeber: Dr. G. H. Graber CBS- Verlag. Schwarzenburg
«Der Idiot» ist einer der bedeutendsten Romane Dostojewskis, im Rang gleichzustellen den «Brüdern Karamasoff» und «Schuld und Sühne». Das Werk erschien in den Jahren 1868-1869 und entfaltet den ganzen Reichtum Dostojewskischer Seelenkenntnis; auch in diesem Buche erweist sich der grosse russische Schriftsteller als einer der abgründigsten Kenner des Menschenherzens, als ein intuitiver Psychologe höchsten Ranges, der viele Einsichten der Tiefenpsychologie vorweggenommen hat. Beim Lesen des «Idioten» begreift man den Ausspruch Nietzsches – ebenfalls ein Vorläufer der Tiefenpsychologie dass er einzig und allein von Dostojewski noch etwas lernen könne und dass die Begegnung mit seinen Schriften zu den wichtigsten Eindrücken seines Lebens gehöre.
Fast alle Figuren, die Dostojewski in der Blütezeit seines Schaffens gestaltet hat, sind sichtlich von seinem Herzblut belebt; sie sprechen des Dichters eigene Nöte, Leiden und Ideale aus. Vielleicht darf man dem Helden des «Idioten» hierbei eine Sonderstellung zuweisen; man spürt die überragende Liebe und Sorgfalt, mit der Dostojewski den Fürsten Myschkin (den Idioten) zeichnet, wie er sich weithin mit seiner Lebenseinstellung und seinen Auffassungen identifiziert; die Übereinstimmung geht sogar so weit, dass er ihm auch die Krankheit zuschreibt, an der er selbst gelitten hat; Myschkin ist, wie Dostojewski, ein Epileptiker, und sein grenzenlos gütiges und mitleidiges Wesen hebt sich auf dem Hintergrund eines Leidens ab, das ihn von vornherein zum Aussenseiter des Lebens macht – eigenes Leid macht hellsichtig für die Leiden der anderen und zur unbegrenzten Hingabe an die Mitmenschen sind nur diejenigen fähig, die auf das Leben und seine Güte verzichten gelernt haben, eine Kunst, die man in der Regel nur durch äusserste Notwendigkeit erwirbt.
Der äussere Rahmen der Erzählung kann etwa folgendermassen in Erinnerung gerufen werden: Fürst Myschkin war als junger Epileptiker von einem Vormund in .die Schweiz geschickt worden, wo er in einer Anstalt teilweise von seinem Leiden befreit werden konnte. Er kehrt nun als junger Mann nach Russland zurück, wo er eine Erbschaft antreten soll. Bei seiner Rückkehr nach Petersburg besucht er seine Verwandten, die Jepantschins, und wird von ihnen freundlich aufgenommen. Der General Jepantschin, Lisaweta Prokofjewna (seine Frau) und die drei Töchter stellen mit Staunen fest, dass der «Idiot» den Eindruck eines angenehmen und vernünftigen Menschen macht, den man gut in die Familienfreundschaft einbeziehen kann. Am selben Abend ist der Fürst bei Nastasja Filippowna zu Gast, einer überaus schönen jungen Frau, die während Jahren die Geliebte eines Adeligen war, welcher sie nun an einen jüngeren Mann «verheiraten will; hier tritt nun der Fürst auf die Szene und wird ungewollt zur Hauptperson eines Dramas, in dem er selbst zugrunde gehen wird.
Die weitläufigen Schilderungen des Romans kreisen vor allem um zwei psychologische Ideen, die in jeder der auftretenden Personen mannigfaltig abgewandelt sind: Demut und Stolz sind die Leitmotive in allem Denken und Handeln, das der Dichter mit minutiöser Genauigkeit zu beschreiben weiss; die Darstellung der Demut vereinigt sich ganz im Fürsten Myschkin, eines im echten Sinne demütigen Menschen, der aus seinem persönlichen Missgeschick die Lehre von der Bruderschaft aller Menschen gezogen hat, und den sein verfeinertes Mitgefühl mit einer Menschenkenntnis beschenkt, die ihm schlaglichtartig das tiefste Leiden derer, die ihn umgeben, enthüllt. Trotz oder wegen seiner Krankheit ist Myschkin zu einer Echtheit und Ursprünglichkeit durchgedrungen, vor der Stolz und Eigenliebe verblassen; seine mitleidige und kranke Seele ist umstrahlt von einer Vornehmheit, der sich die anderen nicht entziehen können, wenngleich sie den vertrauensseligen und manchmal kindlichen Fürsten als einen «Idioten» verspotten.
Aber rings um diesen demütigen Menschen dreht sich das Karussell des Stolzes und der Eitelkeit, besser gesagt, der Eigenliebe, von der Laroche-foucauld mit Recht behauptet hat, dass man an ihr immer wieder neue Seiten und Aspekte entdecken wird. Eigenliebe ist der geheime Motor vieler Dostojewskischer Menschentypen; der Mittelpunkt einer Seele ist jene Stelle, wo ihr Stolz entscheidend verletzt oder gebrochen worden ist. Hat einmal eine solche Verwundung des Selbstwertgefühls stattgefunden, so geht alles darum, sie zu vergessen, zu – verdrängen -, zu kompensieren; unsere Eigenliebe will alles zugeben, nur das Eine nicht, dass sie sich hat demütigen lassen. Wüsste man im Seelenleben eines Menschen den geheimsten Ort seiner Erniedrigung – und welcher Mensch wird im Laufe seiner Entwicklung nicht von einer unverständigen Umwelt in irgendeiner Weise erniedrigt – so könnte man daraus sein Streben, sein Verhalten Gut und Böse, seine ganze moralische und menschliche Existenz ableiten. Dostojewski hat diesen von der Tiefenpsychologie entdeckten Zusammenhang geahnt, und was wir Heutigen in der Neurosentherapie als geläufiges Erklärungsmittel für Symptome benützen, hat er an den von ihm erdichteten Gestalten mit bewundernswürdiger Intuition aufgezeigt: aus verletzter Eigenliebe wird Raskolnikoff zum Mörder («Schuld und Sühne»), aus gekränktem und darum krankhaftem Stolz handeln die Menschen im «Idioten» so, dass sie notwendigerweise untergehen müssen.
Nastasja Filippowna hat den Adligen geliebt, der sie nun an einen unbedeutenden jungen Menschen verkuppeln will, um sie loszuwerden; an dieser Kränkung zerbricht ihre hochgespannte Seele, deren Riss und Verletzung der Fürst als Einziger im vollen Umfang erfasst. Der Entschluss Nastasjas, zu heiraten, hat beinahe die Bedeutung, dass sie sich selber wegwerfen will; man kann dieses Verhalten nur verstehen, wenn man weiss, dass der Erniedrigte eine Art Wollust empfindet, sich noch weiter zu erniedrigen: der Fürst spricht es aus, dass darin ein Racheakt gegen irgend jemand liegt, wie wenn einer zu sich sagen würde: Ihr habt mir wehe getan. nun seid Ihr schuld, dass ich zugrunde gehe! Die Psychologie der Prostituierten, mancher krimineller Typen, der Selbstmörder hat häufig einen derartigen Zug – ähnlich wie auch manche Kinder sich selber schädigen und dabei einen Wutaffekt gegen ihre Eltern abreagieren. Angesichts von Nastasjas Situation, an der er pathologische und wahnhafte Momente beteiligt sieht, rät der Fürst von einer Heirat mit dem ungeliebten Manne ab; auf eine Frage Nastasjas erklärt er sich sogar in einer Aufwallung von Mitleid bereit, selber sie zu heiraten – aber Nastasja, die ihn zu lieben beginnt, wird nicht ihn wählen, sondern sich für hunderttausend Rubel an Rogoschin verkaufen, an einen reichen Kaufmannssohn, der sie nicht liebt, sondern sie lediglich wahnwitzig begehrt. Indem sie sich fallen lässt, erhebt sie Anklage und Protest gegen das, was man ihrer Eigenliebe angetan hat: da man sie nicht in den Himmel aufnimmt, will sie der tiefsten Unterwelt angehören.
Der Fürst macht es sich zur Aufgabe, die Seele Nastasjas zu retten, denn er weiss, dass sie sich Rogoschin gegeben hat, um eine Art -symbolischen Selbstmord zu verüben. Er selbst hat sich, mehr oder minder unbewusst, in die jüngste Tochter der Jepantschins, in Aglaja, verliebt; in seinem Kleinmut wagt er sich diese Liebe nicht einzugestehen, und er hat lange Zeit nicht bemerkt, dass seine Liebe von Aglaja auf das heftigste erwidert wird. Kleinmut wagt selten zu hoffen, und der schüchterne Fürst geht im Hause der Jepantschins aus und ein und erkennt nicht, dass er geliebt wird. denn diese Liebe äussert sich zumeist in Spott und Verhöhnung. Es ist eine alte Einsicht der Psychologen, dass Liebe und Hass komplementäre Gefühle sind und dass vor allem der letztere aus einer enttäuschten Liebe hervor wächst; oft kann man am Grad des Hasses das Ausmass der früheren Liebe ablesen! Ein stolzer Mensch, dessen Gefühle nicht erwidert werden, neigt zur Rache, und Aglaja quält den Fürsten, weil er nicht sieht oder sehen will, dass sie ihn liebt. Und doch ist es ein offenes Geheimnis für alle, dass hinter der Verspottung die Zuneigung steht: die spröden Seelen empfinden nicht weniger intensiv als die Empfindsamen, aber das Bekenntnis ihrer Liebe ist möglich, wenn dabei ihr Stolz nicht leer ausgeht.
Diese Situation spitzt sich zu bis zu dem Augenblick, wo der Fürst nunmehr der offiziös erklärte Bräutigam von Aglaja «in die Gesellschaft- eingeführt werden soll; er soll einflussreichen Persönlichkeiten vorgestellt werden, und die ganze Familie der Jepantschins bangt, welchen Eindruck ihr Schwiegersohn machen wird. Fine erstaunliche Schilderung seelischer Vorgänge: Aglaja hat den Fürsten vorher spöttisch gewarnt, eine kostbare chinesische Vase nicht zu zerbrechen, und wir wissen bereits im voraus, dass der aufgeregte und beunruhigte Myschkin in einer Art «Fehlleistung» (Freud) die Vase umwerfen wird. Aber nicht nur das Porzellan wird zerbrochen; wenn die Schüchternheit mutig wird, wird sie tollkühn und vergisst ihre Grenzen; der zunächst verängstigt dasitzende Fürst verliert seine Hemmungen, gerät in ein uferloses Plaudern, beleidigt seine Gesprächspartner durch unangebrachte Offenherzigkeiten, die ihn lächerlich machen – die Prüfungssituation, in der er sich gefühlsmässig befindet, bringt Chaos in seine Lebensgeister und die hektischen Gespräche enden … mit einem epileptischen Anfall, von dem wir (wie bei den Anfällen Dostojewskis selber) vermuten müssen, dass er psychogen bedingt ist.
Myschkin hat sein «gesellschaftliches Auftreten» nicht bestanden, und ist für die Jepantschins ausgemacht, dass er ihr Schwiegersohn nicht werden kann. Aber der Stolz und der mit ihm verwandte Eigensinn steigern sich angesichts von Widerständen, die man ihnen in den Weg legt: wir begreifen, dass die hochmütige Aglaja jetzt erst recht den Fürsten heiraten will. Aber da ist noch Nastasja Filippowna, die man für eine ehemalige Geliebte Myschkins hält, weil sie der Fürst vor Kogoschin beschützt hat – alle Liebe will Ausschliesslichkeit im Besitz des Geliebten, und die Liebe der Stolzen will ausschliesslich sein bis ins Letzte und Äusserste. Aglaia will nicht nur den Fürsten selbst, sondern ihr «Triumph» soll mit einer Demütigung der vermeintlichen Konkurrentin Nastasja verbunden sein: der Hochmütige will nicht nur siegen, sein Sieg soll auch die Niederlage eines andern sein! Sie hat aber nicht damit gerechnet. dass das Mitleid die stärkste Regung des Fürsten ist, und in der Konfrontation mit Nastasja, die sie selbst herbeiführt. wird sich der Fürst für Nastasja entscheiden, nicht weil er sie liebt. aber weil er die Leidende und die Bedürftige erkennt. Er wird aber auch Nastasja nicht heiraten, denn kurz vor der Heirat tötet Rogoschin seine ehemalige Geliebte. Vom Standpunkt der Begierde allein aus gesehen, will man ein Liebesobjekt besitzen oder es zerstören: Begierde ist immer. auch grausam und steht dem Willen zur Macht nahe, der nur das am Leben lässt, was sich ihm unterwirft; indes wahre Liebe entsagen und verzichten kann («Wenn ich Dich liebe, was gehts Dich an» – Goethe), ohne ihren Gegenstand zu entwerten, will das Begehren besitzen oder zerstören – Rogoschin ermordet Nastasja und an diesem Mord gehen er und Muschkin gleichfalls unter.
Demut und Stolz nannten wir die Leitmotive dieser Erzählung, und in der Tat haben fast alle Personen des Romans einen geheimen Stolz in sich, der sie daran hindert, die teilweise demütigende Wirklichkeit anzuerkennen; sie müssen darum eine Scheinwelt um sich errichten. ein Stück Wahn, an dem sich ihre Eigenliebe befriedigt. Noch ein Motiv muss genannt werden, wenn man den ergreifenden Tiefsinn des «Idioten» deutlich machen will: Dostojewski hat als existentieller Schriftsteller (wie wir heute sagen) erkannt, welche Bedeutung der Tod und das Sterben im menschlichen Leben einnimmt, dass es vielleicht überhaupt keine sinnvolle Existenz ohne die bewusste und tapfere Auseinandersetzung mit der Tatsache des Sterbenmüssens gibt. Die Menschen neigen dazu, den Tod zu vergessen: man weiss, dass der Mensch sterben muss, aber man will sich nicht eingestehen, dass es uns selbst in jedem Augenblick treffen kann. Erst aus diesem Bewusstsein erwächst eine wesentliche Existenz, und ein hochgemutes Leben stirbt nicht erst in «der letzten Stunde», sondern wagt es, dem Tod ständig ins Auge zu sehen. Dostojewski wurde selber grausam genug mit diesem Faktum bekannt gemacht, als man ihn zum Tode verurteilte und im allerletzten Moment noch begnadigte; er hat Zeit seines Lebens unter diesem Eindruck gestanden und von diesem erschreckenden Datum stammen auch bei ihm ganz merkwürdige Ideenkomplexe, etwa die Vergottung des Zarismus, der panslawistische Welterlösungsgedanke etc., mit einem Wort, eine unsägliche Demütigung vor jener Gewalt. die ihn zum Tode verurteilt und ihn dem Leben wieder geschenkt hatte.
Dostojewski als Politiker und Philosoph gilt uns Heurigen in mehrfacher Hinsicht als fragwürdig, aber als Schriftsteller und Interpret des Menschen hat er zweifellos einen der höchsten Ränge innerhalb der Weltliteratur. Man wird sich dieser Tatsache wiederum bewusst bei der Schilderung des «Idioten» Myschkin, dieses liebeswertesten aller Dostojewskischen Menschen, der an Parzival erinnert: «Durch Mitleid wissend, ein reiner Tor!» Dostojewski schrieb in einem seiner Briefe über den «Idioten»:
Die Idee dieses Romans hat mich schon lange beschäftigt und ist mir sehr lieb; sie ist aber so schwierig, da ich es lange nicht wagte, mich an die Ausarbeitung zu machen. Der Grundgedanke war, einen Menschen mit positiv schöner Seele darzustellen. Schwieriger ist nichts in der Welt, besonders heutzutage. Das Schöne ist ein Ideal, und weder unser, noch des zivilisierten Europas Ideal hat bisher vollendete Gestalt gewonnen. Die vollkommenste aller schönen Gestalten der Literatur ist Don Quixote. Aber er ist einzig deswegen schön, weil er zugleich auch lächerlich ist.»
Friedrich Liebling, Stationsstrasse 3, Zürich 3