«Tutti fratelli» – Humanität und Neutralität

Zeit-Fragen, 2. Mai 2023

Zur Geschichte und Aufgabe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

von Eliane Perret

«Ich komme gleich», ruft Simon und zieht ein weisses Stoffsäcklein mit einem roten Kreuz aus seinem Rucksack. Seit wir mit einer Samariterlehrerin einen Mini-Ersthilfe-Kurs gemacht haben, ist er immer mit Heftpflastern, Desinfektionsmittel, Handschuhen und einer elastischen Binde ausgerüstet. Nun hat sich Dario an einem Papier geschnitten, und ein Blutstropfen verschmiert sein Arbeitsblatt. Das Heftpflaster von Simon kommt gerade recht. Sinaund Amira schauen interessiert zu. Der Erst-Hilfe-Kurs ist eingebettet in ein Unterrichtsthema zur Gründungsgeschichte und zum Wirken des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK. Dazu haben wir ein tolles Sachbilderbuch zum Leben von Henry Dunant verwendet.[1] Offensichtlich lebt das Thema unter den Kindern weiter. «Gut so!», denke ich.

Rückblende – Juni 1859

Der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant reist nach Algerien. Er weilt für Kunden seiner Bank in der damals französischen Kolonie, um Ländereien zu kaufen, die wirtschaftlich genutzt werden sollen. Deshalb reist er hinter dem französischen Kaiser Napoleon III. her, um von ihm eine Bewilligung für seine Geschäfte zu erhalten. Doch ist der Kaiser mittlerweile nach Norditalien weitergereist. Eine grosse Schlacht steht bevor: Frankreich und das Königreich Piemont gegen Österreich, das grosse Teile Italiens besetzt hält. Es ist Ende Juni, ein grausiges Gemetzel tobt den ganzen Tag, und es gibt Tausende von Verletzten und Toten. Dunant, auf seiner Reise gerade in der Nähe, bietet sich ein Bild des Grauens. Er kann nicht anders, er beginnt – auch wenn er medizinischer Laie ist – den Verwundeten zu helfen. Aus den umliegenden Krankenhäusern versucht er, Verbandsmaterial zu bekommen und Transporte zu organisieren. Die aus der Umgebung herbeigeeilten Frauen helfen mit, und alle bekommen Hilfe, unabhängig davon, welcher Armee sie zugehörig sind. Das ist neu, bis anhin wurden die Toten und Verletzten nach geschlagener Schlacht einfach liegen gelassen, oder man kümmerte sich lediglich um die «eigenen» Soldaten.

Wieder zurück in Genf lässt Dunant dieses Elend nicht los, und er bleibt an der Idee hängen, wie man allen Opfern eines Krieges helfen könnte, unabhängig von Herkunft und sozialem Stand. Er schreibt als erstes seine Erfahrungen auf. 1862 ist seine Schrift «Eine Erinnerung an Solferino»[2] fertig, und er verschickt sie an viele einflussreiche Menschen. Sie löst grosse Betroffenheit aus. Dunant wendet sich nun an die Gemeinnützige Gesellschaft in Genf. So entsteht eine Arbeitsgruppe um ihn, das «Komitee der Fünf», welches gemeinsam überlegt, wie man seine Idee verwirklichen könnte. Schon ein Jahr später, 1863, lädt es zu einer internationalen Konferenz ein, an der vierzehn Regierungen vertreten sind. Damit ist der Grundstein für den Aufbau des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) gelegt, zum Wohle der ganzen Menschheit, – ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung unseres Landes.

Die Schweiz als Depositarstaat

Seither sind 160 Jahre vergangen. Heute ist das IKRK eine private, unabhängige schweizerische Institution mit Sitz in Genf. Es handelt als neutraler Vermittler in bewaffneten Konfliktsituationen, bringt unterschiedslos allen Opfern Schutz und Hilfe und führt für die notleidende Zivilbevölkerung Hilfsprogramme durch. Seine Arbeit beruht auf den sieben Rotkreuzgrundsätzen (siehe Kasten), welche das Herzstück seiner Aktivitäten sind und von ihm verbreitet werden. Unterstützt wird es von den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, das Humanitäre Völkerrecht und dessen Regeln bei der Bevölkerung und den Armeeangehörigen bekannt zu machen. Finanziert wird das IKRK durch Mittel von den Vertragsstaaten der Genfer Abkommen, den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, überstaatlichen Organisationen (etwa der Europäischen Kommission) sowie aus öffentlichen und privaten Quellen. Die Schweiz gibt dieser wichtigen humanitären Organisation Gastrecht, sie ist deren Depositarstaat.

«Tutti fratelli»

Die Hilfe soll allen Menschen in Not zukommen, unbesehen ihrer Nationalität, Religion, ihres Geschlechts oder ihrer Rasse. Denn das hat Simon noch vor sich hin gebrummt, «Tutti fratelli – wir sind alle Brüder», als er Dario das Pflaster auflegt. Die beiden sind keineswegs Freunde und immer wieder in Streitereien verwickelt. Aber in der Not ist es keine Frage: Man hilft sich gegenseitig, trotz offener Rechnungen. Warum eigentlich? Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, füreinander da zu sein, sich mit den Mitmenschen zu verbinden und eine Bedeutung für sie zu haben. Das entspricht der sozialen Natur des Menschen. Nur durch Kooperation und gegenseitige Hilfe kann die Menschheit überleben. So ist das Kind schon bei Geburt sozial prädisponiert, und es gehört zur Aufgabe seiner Beziehungspersonen in Familie, Schule und Gesellschaft, diese sozial-emotionalen Kompetenzen, wie man sie heute nennt, zum Blühen zu bringen, damit das Kind eine umfassende Beziehungsfähigkeit aufbauen kann. Diese Bausteine der seelischen Entwicklung sind heute durch sorgfältig durchdachte und gut validierte Studien der modernen Entwicklungspsychologie, speziell der Bindungsforschung belegt. Deren Ergebnisse stehen in Einklang mit der personalen Auffassung des Menschen und der Kulturanthropologie; sie alle beschreiben den Menschen in seinem sozialen Bezug. Das sind die psychologischen und anthropologischen Grundlagen, auf denen das IKRK durch seine gleichwertige Unterstützung aller Opfer von Krieg und Not seine wertvolle Arbeit leistet.

Das Kreuz – ein international anerkanntes Zeichen

Simon hat sein Säcklein wieder eingepackt und blättert im Globi-Buch zur Ersten Hilfe.[3] «Dario hat Pech gehabt», stellt Simon fest, «Papier kann offenbar schneiden wie ein Messer. Aber es ist zum Glück nicht so schlimm wie bei David in der Turnstunde, da war PECH angesagt.» Simon hat sich die Wegleitung für Verstauchungen und andere Muskel- und Gelenkverletzungen gut gemerkt: Pause, Eis, Compression, Hochlagern. Verschmitzt schaut er zu mir, und man sieht ihm an, was ihn beschäftigt: «Ob sie wohl merkt, was ich noch alles weiss?» «Lernen ist eben ein Beziehungsgeschehen», denke ich und nicke ihm zu. «Mir gefällt das rote Kreuz auf dem weissen Stoff, man sieht es gut», meint er schliesslich, «es ist wie das Schweizer Kreuz, einfach umgekehrt. Auf der ganzen Welt wissen die Regierungen, dass es zum Schutz der Menschen verwendet wird. Darüber haben wir doch gesprochen.» Er hat offensichtlich den Hintergrund und den Sinn des international bekannten Zeichens erfasst, auch wenn er dessen Entstehungsgeschichte nicht genauer kennt. In der Pause kommt jedoch Amira zu mir. Sie ist mit ihrer Familie aus Afghanistan in die Schweiz geflüchtet. Ihre Grosseltern sind nach wie vor in ihrem Heimatland. Sie fragt mich: «Sie haben doch gesagt, dass man Häuser, die das rote Kreuz auf dem Dach haben, speziell schützen muss. Warum wurde dann das Lagerhaus des IKRK in Kabul bombardiert?»[4] Was hätte ich ihr sagen sollen? Auch als sie mir erzählte, dass ihr Cousin nun im dortigen Rehabilitationszentrum lernen würde, mit einer Beinprothese zu gehen. «Er ist beim Spielen auf eine Mine getreten», fügte sie noch an.

Ein rotes Kreuz auf weissem Grund – Zeichen der Neutralität und Humanität

Bereits 1863, an den Gründungssitzungen des Roten Kreuzes, wurde der Vorschlag eingebracht, dass die Hilfeleistenden, die Sanitätsdienste der Armeen, Militärkrankenhäuser und Feldlazarette alle mit demselben Zeichen ausgestattet sein sollten. Ein Jahr später, 1864, berief der Schweizer Bundesrat eine Diplomatische Konferenz nach Genf ein. Dort wurde in einer internationalen Konvention vereinbart, dass die militärischen Gesundheitsdienste als neutral zu betrachten seien und geschützt werden müssen, damit sie den Verwundeten ungehindert die nötige Hilfe zukommen lassen können. Der Vorschlag eines einheitlichen Zeichens – ein rotes Kreuz auf weissem Grund – wurde von allen Staaten akzeptiert und 1864 in Artikel 7 des Ersten Genfer Abkommens festgehalten. Alle teilnehmenden Länder, auch die Türkei, waren damit einverstanden. 1876 jedoch, anlässlich des Krieges zwischen dem zaristischen Russland und der Türkei, teilte die damalige Regierung des Osmanischen Reiches dem Schweizer Bundesrat (als Regierung des Depositarstaates) mit, dass sie ab sofort einen roten Halbmond an Stelle des roten Kreuzes verwenden würde, weil dieses zu ähnlich dem Kreuz der russisch-orthodoxen Kirche sei und das Empfinden der muslimischen Soldaten verletze.

Es war keine Zeit und auch nicht der richtige Zeitpunkt, diese Entscheidung und die Notwendigkeit eines einheitlichen Emblems zu diskutieren. Die Regelwidrigkeit des Vorgehens und der damit verbundene Zwang wurden zwar kritisiert, aber die Hilfeleistung an die in Bedrängnis geratene türkische Armee hatte Vorrang, und der Unterstützung in Not geratener Menschen sollte kein Stein in den Weg gelegt werden. Erst 1906, in einer späteren Konferenz, die der Bundesrat einberufen hatte, standen allfällige Änderungen des Abkommens von 1864 auf der Traktandenliste. Dazu gehörte auch die Frage des Schutzzeichens. Es wurde in der Diskussion klar, dass niemand dem roten Kreuz auf weissem Grund eine religiöse Bedeutung zumass, sondern dass es als Symbol für Neutralität und Humanität eingestuft wurde. Das hielt auch der Gesamtbericht der vorbereitenden Kommission für die Vollversammlung fest: «Das rote Kreuz ist die Umkehrung des Schweizer Kreuzes als Zeichen der Neutralität und wird zu Ehren des Gründer- und Gastlandes und Depositarstaates aufgenommen, der durch völkerrechtliche Verträge in einer soliden Neutralität verankert ist.» Diese historisch belegten Zusammenhänge dürfen nicht übergangen werden, wenn heute die Bedeutung der Neutralität der Schweiz für die Arbeit des IKRK relativiert wird.

Damit schien die Debatte um das Zeichen beendet; als allgemeine Regel war weiterhin die Einheitlichkeit des Rotkreuzzeichens für alle im Vertragswerk vereinten Länder anerkannt. Die Ausnahmeregelung des roten Halbmondes und des roten Löwen (Persien, de facto seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Gebrauch) galt nur für diejenigen Länder, denen man es zugestand, weil man sie nicht aus dem humanitären Vertragswerk ausschliessen wollte. Diese Entscheidung erwies sich später auch als richtig, weil das IKRK der einzige internationale Zusammenschluss ist, der die Linderung von Kriegsleid zum Ziel hat.

«Das verstehe ich nicht»

Die Auseinandersetzungen um das Schutzzeichen waren kein Unterrichtsthema für Kinder in der Mittelstufenklasse von Sina, Simon, Amira und Dario. Nebst den Grundkenntnissen in Erster Hilfe stand die Entwicklung menschlicher Anteilnahme und gegenseitiger Hilfe im Vordergrund. Als die Klasse ihr Erste-Hilfe-Säcklein herstellte und mit dem roten Kreuz bedruckte, war es für sie klar, dass man sich kenntlich machen muss durch ein einheitliches Zeichen.

Doch der weitere Aufbau des IKRK und auch das einheitliche Emblem hatten doch einige Hürden zu nehmen. Die strengen Neutralitätsklauseln und die Gleichbehandlung aller Betroffenen war eine Hürde, die nicht allen Interessen genehm war. So gründeten zum Beispiel die Siegermächte des Ersten Weltkrieges im Rahmen des Versailler Vertrages mit der «Liga der Rotkreuzgesellschaften» eine Dachorganisation, in die nur Vollmitglieder des Völkerbundes aufgenommen werden sollten. Eine unnötige Konkurrenzorganisation zum bestehenden Genfer Vertragswerk und zu den durch dieses koordinierten nationalen Rotkreuz-Gesellschaften.

«Das verstehe ich nicht», hätte Sina gesagt, die das Herz am richtigen Fleck und immer eine klare Vorstellung von Recht und Unrecht hat, «nur weil sie den Krieg gewonnen haben, können sie doch nicht einfach alles auf den Kopf stellen und bestimmen, wer Hilfe bekommt und wer nicht. Und wozu brauchte es überhaupt eine andere Organisation?» Sina hätte sicher auch nicht verstanden, warum in der Konferenz von 1929 eine Diskussion über die Anerkennung mehrerer Schutzzeichen aufkam; Zeit, die dann fehlte, um eine Vereinbarung über die Anwendung der Genfer Konvention für den Schutz der Zivilbevölkerung auszuarbeiten, der deshalb im bald entfesselten Zweiten Weltkrieg nicht ausreichend vorhanden war. Diese Aufgabe hätte die Liga der Rotkreuzgesellschaften übernehmen sollen, aber sie war und blieb wenig handlungsfähig und musste sich letztlich mit der Rolle des Güterbeschaffers begnügen. Es ergab sich aber wenigstens eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem IKRK während des Zweiten Weltkrieges und der ersten Zeit danach.

Ein IKRK ohne rotes Kreuz auf weissem Grund?

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ruhte die Diskussion um Erkennungszeichen nicht, und es wurde sogar der Vorschlag eingebracht, alle bisherigen Zeichen – auch das rote Kreuz – durch ein neues einheitliches Zeichen, nämlich einen Kubus zu ersetzen, ein Vorschlag, der erstaunlicherweise fünfzig Jahre später zur Jahrtausendwende durch die USA und Israel wieder eingebracht wurde. Wenn Simon das gehört hätte, wäre er sicher in die Luft gegangen: «Das ist ja unglaublich! War denn mit der Gründung des Roten Kreuzes nicht das Ziel verbunden, allen Menschen in Not zu helfen? Diese Diskussionen lenkten doch nur davon ab.» Tatsächlich waren wertvolle Kräfte auf einem Nebengleis gebunden, anstatt die dringend anstehenden Aufgaben angehen zu können, die sich für die Menschheit nach dem Krieg stellten. Das rote Kreuz auf weissem Grund war durch die Jahre des Zweiten Weltkrieges in allen Winkeln der Erde bekannt geworden und wurde verbunden mit Neutralität und der Hoffnung auf Schutz und Hilfe in grösster Not. Aber wie gesagt, waren diese Konflikte kein Thema im Unterricht von Simons Klasse. Es könnte jedoch Oberstufenschüler interessieren, sich mit dem Thema (und allenfalls mit den Protokollen dieser Sitzungen) zu beschäftigen. Der Lehrplan 21würde dazu die Möglichkeit bieten, denn unter der etwas dürren Beschreibung «Die Schülerinnen und Schüler können ausgewählte Phänomene der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts analysieren und deren Relevanz für heute erklären» ist auch das Rote Kreuz angeführt. Auch ein Zeichnungsprojekt zu den vielfältigen Plakaten aus aller Welt wäre möglich (siehe Abbildung „Souscription Nationale“). Und sicher würde sie auch der folgende Aufgabenbereich des IKRK interessieren: die Suche nach vermissten Menschen.

«Wo ist mein Sohn? Lebt er noch?»

Leider sind die meisten Zeitzeugen inzwischen verstorben, die uns erzählen könnten, welch grosse Aufgaben das IKRK während der Weltkriege übernommen hatte. Zum Beispiel die Suche nach vermissten Personen. «Mein Sohn, unser Vater, mein Ehemann – wo sind sie? Leben sie noch?» Mit diesen drängenden Fragen wendete man sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges an das IKRK in Genf. Waren es vor Beginn des Krieges lediglich zehn Personen, die ehrenamtlich ihren Aufgaben nachgingen, änderte sich das in den folgenden Kriegsjahren schlagartig. Immer mehr Briefe trafen ein, mit denen Angehörige nach ihren Nächsten suchten. Ende 1914 waren es schon 1200 Personen, die sich damit beschäftigten. 30 000 Briefe täglich trafen auf dem Höhepunkt des Kriegsgeschehens bei der Hilfsorganisation ein. In den vier Kriegsjahren von 1914 bis 1918 kamen sieben Millionen Karteikarten zusammen. Es waren von Hand auf Karteikarten geschriebene Informationen über Kriegsgefangene, über deportierte, verletzte und vermisste Soldaten. Spuren des Schicksals von insgesamt 2,5 Millionen Kriegsgefangenen. Die Suche nach ihnen war anspruchsvoll, musste man doch die von Hand geschriebenen Kärtchen überprüfen und mit Listen von Gefangenen abgleichen, um so den Angehörigen hoffentlich eine Antwort auf den Verbleib der Vermissten geben zu können. Auch in den darauffolgenden Kriegen ging diese Arbeit weiter, die Zahl der Karteikarten, mittlerweile ein Lochkartensystem, wuchs auf 39 Millionen an. Im Jahre 1940 wurden 40 000 französische Soldaten vermisst. Nachfragen in Deutschland und Frankreich liefen vorerst ins Leere. Mit einer gut durchdachten Fahndung konnten 30 000 von ihnen gefunden werden.[5] Seit 1988 ist diese eindrückliche Kartei im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum in Genf ausgestellt und seit 2014 auch online einsehbar.

Auch heute arbeitet das IKRK in über 60 Ländern, um vermissten Personen und ihren Familien zu helfen. Eindrückliche Zahlen belegen es: 2015 wurden 1000 Kinder wieder mit ihren Familien vereint; 3650 Familien in 21 Ländern, die Angehörige vermissen, erhielten psychologische und psychosoziale Betreuung; 479 000 Familienangehörige konnten anhand kostenloser Telefonanrufe wieder Kontakt mit ihren Familien aufnehmen; 25 700 Inhaftierte wurden besucht und individuell betreut; in 53 Ländern weltweit wurden humanitäre forensische Dienste bereitgestellt; 19 Staaten wurden bei der Entwicklung nationaler Gesetze und Mass-nahmen hinsichtlich vermisster Personen und ihrer Familien unterstützt.[6]

Die Arbeit geht weiter

Auch in jüngster Zeit konnte das IKRK wiederum eine erfolgreiche Rückführungsaktion melden. Zwischen dem 14. und 16. April 2023 konnten 900 Gefangene aus der Haft entlassen werden, die im Zusammenhang mit dem Konflikt im Jemen inhaftiert wurden. Das war das Ergebnis von Gesprächen, die das IKRK gemeinsam mit dem Büro des Sondergesandten des Generalsekretärs für den Jemen leitete und die am 20. März 2023 in Bern (Schweiz) abgeschlossen wurden. Wenn wir Mohammad, einen der glücklichen Rückkehrer, hören, können wir wenigstens erahnen, was dieser Moment für die Menschen bedeutete: «Ich bin seit sechs Jahren inhaftiert. Ich kann es kaum erwarten, in den Jemen, meine Heimat, zurückzukehren und meine Familie so bald wie möglich wiederzusehen. Am meisten vermisse ich meine Mutter, und ich kann es kaum erwarten, meinen Vater und meine Geschwister wiederzusehen.»[7].

Ich bin sicher, dass unsere Kinder und Jugendlichen sich von diesen Themen sehr angesprochen fühlen. Es liegt in der Natur des Menschen, sich vom Schicksal anderer Menschen bewegen zu lassen. Simon, Amira, Dario und Sina haben schon einen Anfang gemacht.

Politische Strategie statt Hilfeleistung?

Als ich am nächsten Tag die Zeitung las, wurde ich nachdenklich. «Dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuzkönnten bis Ende dieses Jahres 500 bis 700 Millionen Franken fehlen. Das entspricht etwa einem Viertel des Jahresbudgets», sagte der IKRK-Generaldirektor Robert Mardini im Gespräch mit der Zeitung «Le Temps».[8] Wenn sich diese Tendenz bestätige, müsse das IKRK Abstriche machen. Es müssten Standorte gestrichen, Mitarbeiter entlassen und insbesondere an schwer zugänglichen Orten die Hilfe eingestellt werden. Gerade dort wäre die Hilfe des IKRK jedoch besonders wichtig. Der Grund dafür? Der Grossteil der Gelder kommt von Regierungen der Unterzeichnerstaaten. In den vergangenen fünf Jahren hätten sie im Schnitt rund 82 Prozent des Budgets finanziert, sagte Mardini. Das IKRK nimmt finanzielle Mittel ausschliesslich von Spendern an, welche die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des IKRK respektieren. Die Beiträge der Unterzeichnerstaaten sind jedoch freiwillig. Mit anderen Worten kann die Bereitschaft oder die Weigerung, das IKRK weiterhin finanziell zu unterstützen, durch -politische Strategien beeinflusst sein, Druck auf die Arbeit des IKRK auszuüben oder die Organisation und auch die Schweiz als Depositarstaat zu schwächen.

Der Mensch als Bezugspunkt des Staates und der internationalen Gemeinschaft

Welcher Kommentar wäre wohl von Sina und Amira zu erwarten, wenn sie Peter Maurer, den erst vor kurzem zurückgetretenen Präsidenten des IKRK, gehört hätten, der in bezug auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine feststellte:

«Es gab auch nach dem Minsker Abkommen jeden Monat zig Tote an der Konfliktlinie. Es interessierte einfach niemanden. Unsere Operation in der Ostukraine war eine der am schlechtesten finanzierten. Jetzt ist es der grösste IKRK-Einsatz der Geschichte.»[9] Finanzielle Unterstützung je nach politischer Strategie? Das steht dem Grundgedanken – dem Neutralitätsgebot der Hilfsorganisation – diametral entgegen. Ich höre die Empörung der beiden Mädchen in meinen Ohren: «Warum wird nicht allen Menschen gleich geholfen, sind die einen mehr wert als die anderen?»

Wäre es nicht Zeit nachzudenken, was Cornelio Sommaruga, der vormalige Präsident des IKRK anlässlich des Kosovo-Krieges gesagt hatte: «Wir müssen den Menschen und den Respekt gegenüber seiner Würde wieder in den Mittelpunkt der politischen Diskussion stellen und in den Mittelpunkt der politischen Entscheidung, da der Bezugspunkt und Zweck sowohl des Staates als auch der internationalen Gemeinschaft immer das menschliche Wesen ist […].»[10] Humanität und Neutralität sind dazu eine unerlässliche Bedingung sowohl für das Wirken des IKRK wie auch für die Schweiz als Depositarstaat dieser unverzichtbaren Organisation.  •

[1] Bors, Lisette. (2010). Wer ist Henry Dunant? Zwei Kinder entdecken die Geschichte Henry Dunants und des Roten Kreuzes. Zürich 2010, Verlag Zeit-Fragen. ISBN 978-3-909234-08-0. Das Buch ist auch in französischer, italienischer, englischer und spanischer Sprache erhältlich.

[2] Dunant, Henry. Eine Erinnerung an Solferino. Berlin, 2010: Omnium. ISBN 978-3-942378-76-5 (vergriffen)

[3] Alves, Katja. Erste Hilfe mit Globi. Ein Sachbuch für Kinder. Zürich 2020: Globi-Verlag ISBN 978-3-85703-309-4

[4] Wieder IKRK-Warenlager in Kabul bombardiert. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.10.2001

[5] vgl. Rings, Werner. Advokaten des Feindes. Das Abenteuer der politischen Neutralität. Zürich 1966: Ex Libris, S. 28ff

[6] vgl. https://www.icrc.org/de/document/vermisste-personen-und-das-humanitaere-voelkerrecht (Zugriff am 15.4.2023)

[7] vgl. https://www.icrcnewsroom.org/story/en/2051/yemen-saudi-arabia-scenes-of-overwhelming-joy-as-nearly-900-detainees-return-home-in-three-day-release-operation/0/KQe1rkoaJY (Zugriff am 15.4.2023)

[8] vgl. https://www.zentralplus.ch/news/ikrk-befuerchtet-zu-wenig-finanzmittel-2525882/ (Zugriff am 15.4.2023)

[9] Maurer, Peter. Der Endloskrieg ist eine historische Tatsache. In: Neue Zürcher Zeitungvom 12.4.2023

[10] Aus dem Vortrag von Cornelio Sommaruga, Präsident des IKRK von 1987–1999, mit dem Titel «Das internationale humanitäre Recht an der Schwelle des dritten Jahrtausends – Bilanz und Perspektiven», gehalten am 30. Oktober 1999 in Genf.

Die Suche nach vermissten Angehörigen gehört seit dem Ersten Welt- krieg zu den Aufgaben des IKRK. Hier ein Bild von der Arbeit in der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene (1914–1923). Die Karteikästen sind heute Teil des Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseums in Genf. (Bild WikimediaCommons)

Karteikarte von Giles Romilly, Neffe von Winston Churchill, mit der er seiner Familie mitteilt, dass er in deutscher Kriegsgefangenschaft im Lager «Ilag VIII» in Tost ist, das von März 1941 bis Juni 1942 in Betrieb war.
(Bild WikimediaCommons)

Verlag Zeit-Fragen. ISBN 978-3-909234-08-0