Psychologie der Gewalt

Über die Rolle der Macht im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft

Von Polybios

„Befreiung“, Zeitschrift für kritisches Denken, 2. Jahrgang Nr. 7, 1. Juli 1954

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Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte, das Verhängnis zweier Weltkriege, Massenterror und Diktatur, haben uns einen gründlichen Anschauungsunterricht über die geschichtliche Bedeutung der Gewalttätigkeit gegeben. Die Flut von legalisierten Verbrechen, die über den Gefilden der Kultur zusammengeschlagen ist, hat uns vieler Illusionen beraubt. Niemand wird die Fortschritte der zivilisatorischen Entwicklung bestreiten, deren Stetigkeit über die Jahrtausende hinwegreicht; Innsichtlich der Bändigung der Gewalt jedoch scheinen wir uns noch gänzlich an den Anfängen der Humanisierung zu befinden. Noch kennt das allgemeine Bewußtsein der Einzelnen und der Völker keine Antwort auf die Kainfrage: «Bin ich der Hüter meines Bruders?» Das Problem der Gewalttätigkeit ist von der Menschheit nicht gelöst worden. Die maßlose und die gemäßigte Brutalität, historische Faktoren ersten Ranges, prägen auch unserem Zeitalter ihren Stempel auf. Machtstreben in Wirtschaft und Politik treibt uns immer wieder in Katastrophen hinein, in denen der Reichtum unserer Kultur verschleudert und die Ernten unserer Zivilisation zerstört werden. Diese verhängnisvollen Auswirkungen berühren uns an unserem Lebensnerv, aber wir sind lethargisch genug, um uns durch sie nicht aufrütteln zu lassen. Wir erkennen noch nicht, daß die Gewalttätigkeit alle unsere kulturellen Bemühungen ständig zum Scheitern bringt; wir sind töricht genug, uns fortzu in Sicherheit zu wiegen, indes das Gewitter der Gewalt sich über unserem Haupte zusammenzieht. Wir wissen, daß wir am Rande des Vulkans siedeln, aber wir geben uns der Hoffnung hin, daß es zu keinem Ausbruch kommen werde; die beruhigende Selbsttäuschung ist uns lieber als der Gedanke an die Gefahr. Unlust zu vergessen und Lust zu wünschen scheint ein Bestandteil der menschlichen Natur zu sein. Das Lustprinzip aber ist untauglich, das Leben des Menschen zu schützen, denn die Realität will erkannt und verstanden sein: wer zu ihr in Widerspruch gerät, wird entweder geschädigt oder vernichtet.

Angesichts der Kette von Gewaltakten, die ein Hauptteil der Menschheitsgeschichte ausmacht, drängen sich uns eine Reihe von Fragen auf, an deren Beantwortung der Fortbestand unserer Kultur hängt. Wenn es Brutalität von jeher gegeben hat und auch noch heute in einem erschreckenden Maße gibt, wenn die Gewalt Geschichte gemacht hat und heute noch die Weltpolitik bestimmt, selbst dann, wenn jedermann weiß oder ahnt, daß sie der Schrittmacher des Verderbens ist, so müssen wir uns fragen: «Wie ist dieses Uebel in die Welt gekommen?» «Woher stammt die Gewalttätigkeit? Ist sie Ausdruck der menschlichen Natur, notwendige Äusserung der menschlichen Wesensbeschaffenheit oder Produkt geschichtlicher und kultureller Bedingungen?» «Wird es möglich sein, der Gewalt Herr zu werden, sie auszuschalten aus den Beziehungen der Einzelnen und der Gemeinschaften?» «Oder sind wir dazu verurteilt, der periodischen Invasion durch die Barbarei machtlos zuzusehen, da die ,ursprüngliche Wildheit der menschlichen Natur‘ stets von neuem ihr Recht fordert und der im Kulturmenschen verborgene Dämon von Zeit zu Zeit wieder zutagetreten muß?» All das sind Fragen, die mehr als ein nur akademisches Interesse haben und deren Klärung größte Tragweite besitzt. Philosophen, Psychologen, Soziologen und Geisteswissenschaftler, die hier nichts beizutragen haben, richten sich selbst: die Not der Menschheit rührt nicht an ihr Herz, und damit wird all ihre Weisheit und Wissenschaft degradiert zu einem selbstgefälligen Spiel des Verstandes, das keine Verbindlichkeit kennt. Wenn wir in einer Welt leben, in der Krieg und Verbrechen an der Tagesordnung sind, sind wir doch auch Mörder und Verbrecher, denn die Welt ist so, wie wir sie eingerichtet oder — in Bezug auf bereits bestehende Verhältnisse — geduldet haben. Keiner kann sich der Verantwortung entziehen. Wir sind immer mitschuldig, selbst dann, wenn wir Opfer sind. Tausendfaches Unrecht geschieht, nicht nur, hinten in der Türkei‘, sondern in unserer nächsten Nähe, aber wir empören uns nicht, wir verteidigen nicht den Schwachen und helfen nicht dem Hilflosen. Und indem wir nicht gegen sie kämpfen, billigen wir die Gewalttätigkeit, in der fragwürdigen Meinung, sie werde uns verschonen. Im Augenblick dann, wo sie über uns selbst hereinbricht, ist es gewöhnlich zu spät, sie einzudämmen ; die Krankheit, die wir am Anderen nicht zu heilen unternommen haben, rafft uns selbst hinweg. Um diese Epidemie von Machtgier und Brutalität aus der Welt zu schaffen, bedürfen wir zunächst der Einsicht in Wesen und Herkunft der Gewalt; denn die Erkenntnis des Uebels ist der erste Schritt zu seiner Überwindung.

Gewalt und menschliche Natur

Der religiöse Mythos des Abendlandes hat den Ursprung der Gewalt auf den Sündenfall der ersten Menschen zurückgeführt. Aus der friedlichen Stätte des Paradieses durch Selbstverschuldung vertrieben, fand sich der erste Mensch in einer Welt des Raubens und Mordens und er selber «wußte von gut und böse». In einer anderen Version des religiösen Denkens wird geschildert, wie Gott die Welt in all ihrer Vollkommenheit geschaffen habe, und daß sich dann einer seiner Engel gegen ihn aufgelehnt habe : Satan, der dann verurteilt wurde, Fürst der Unterwelt zu sein. Seitdem wirken die Macht des Lichtes und die der Finsternis gegeneinander; ihr Kampf beherrscht den Gang der Weltgeschichte. Im Grunde sind diese Gedankengänge Ma- nichäismus; das gute und das böse Prinzip ringen um die Herrschaft, und die Menschenseele, eine Arena dieses Kampfes, muß darunter leiden, daß das Gute nicht allmächtig ist. Dies ist auch das Problem der Theodizee, der es bis heute nicht gelungen ist, die Uebel in der Welt mit der Allmacht und Allwissenheit Gottes zu vereinbaren. Es braucht nicht betont zu werden, daß der religiöse Mythos nichts zur Erklärung des Bösen hergibt; ein Gott, der Satan und Sündenfall zuließ und — wie immer man es symbolisch deuten mag — darauffolgend das unsägliche Maß von Blut und Tränen im Gang der Geschichte, ist kein Gott, und er verdient den Ausspruch Cocteaus: «Ja, es gibt einen Gott — den Teufel!» Führen wir die Gewalttätigkeit des Menschen auf seine Sündhaftigkeit zurück, so haben wir der Gewalt einen anderen, erbaulichen Namen gegeben: erklärt und verstanden haben wir nichts.

Das 19. Jahrhundert hat einen wissenschaftlichen Beitrag zur Lösung des Gewaltproblems geliefert. Als Charles Darwin die Evolution in der Tierwelt erkannt hatte, mußte er sich fragen, wodurch die Arten über sich selbst hinausgetrieben werden, welche Bedingungen den Motor ihrer Entwicklung zu höheren und besser angepaßten Lebensformen darstellen. Er erkannte dabei die züchtende und auswählende Macht des «Kampfes um das Dasein», der das «Überleben des Tüchtigsten» sichert und dadurch die Erhaltung und Fortpflanzung der gesündesten Exemplare einer Spezies zu gewährleisten scheint. Die Natur übernimmt hier die Aufgabe eines Züchters, der unbarmherzig Fehlschläge ausschaltet, zum Teil an der Begattung hindert, um auf diese Weise bessere Zuchterfolge zu erzielen. Einige der Schüler Darwins übertrugen diesen Gesichtspunkt auch auf die Menschenwelt, in der sie das Gesetz des Daseinskampfes proklamierten und in ihm die Triebfeder des Fortschritts gefunden zu haben glaubten. Der Kampf aller gegen alle erschien somit nicht nur als ein notwendiges Uebel, sondern als eine segensreiche Einrichtung, die die menschliche Rasse reinigt und erhöht; im Wirtschaftsleben usurpierte der Manchester-Liberalismus diese Ideologie, und sein «Laissez faire, laissez aller» sowie sein Glaube an die sich selbst herstellende Harmonie im Gesellschaftskörper hat hier eine seiner Grundlagen. Diese Lehre hat auch in der Gegenwart noch ihre Anhänger, und doch ist es offensichtlich, daß sie ebenso falsch wie inhuman ist. Die Forschung hat inzwischen erwiesen, daß im Tierreich nicht nur der «struggle for life», sondern auch das Prinzip der «Gegenseitigen Hilfe» (Kropotkin) wirksam ist. Die höher organisierten Lebewesen leben in Verbänden, Gruppen und Herden; in ihnen hat sich ein Herdeninstinkt herausgebildet, der mitunter die Arterhaltung über die Selbsterhaltung stellt. In der Menschenwelt spielen soziale Gefühle und gemeinschaftliche Verbundenheit sicherlich eine ebenso große Rolle wie der Wille zur Macht und der Eigennutz. Es ist sicherlich falsch, den Menschen als Raubtier zu definieren und ihn in der Terminologie der Raubtier-Existenz zu beschreiben ; denn der Mensch ist der Hingabe und der Selbstaufopferung fähig. Die Theorie des «Homo homini lupus» ist irreführend und gefährlich. Sie zieht vor allem die Autokraten und das autoritäre Gemüt an, das in ihr die Rechtfertigung für sein Machtstreben erblickt. Die Theoretiker der Diktatur haben deshalb stets auf sie zurückgegriffen, und aus ihr ein Instrument der Unterdrückung des Menschen gemacht. Der Mensch mag wohl den Eindruck der Bestialität erwecken; aber seine Gewalttätigkeit ist eine andere als diejenige des Tieres, sie hat einen anderen Ursprung; denn ein Wesen, das seiner selbst bewußt ist, unterliegt nicht mehr blinden Naturkräften und muß darum — dies ist die Differenz zwischen Mensch und Tier — die Verantwortung für sein Tun und Lassen tragen.

Mensch und Tier

Es wäre unsinnig, die Grausamkeit eines Tieres sittlich und moralisch zu bewerten. Ein Tier kann niemals «böse» sein. Wenn seine Instinkte es zum Raubtier bestimmen, so folgt es fraglos einem blinden Drang, der zu, seinem Wesen, seiner Natur gehört. Es wird niemals in eine sittliche Entscheidung hineingestellt. Die Natur hat es als Räuber geschaffen, und in dem Augenblick, wo die Beute auftaucht, rollt die Kette der Instinkthandlungen ab, die nirgends durch Selbstbewußtheit unterbrochen ist. Der Instinkt ist eine «Wenn-Dann-Reaktion», eine Abfolge von unbedingten Reflexen. Durch ihn ist das Tier in seme Umwelt eingefügt wie ein Schlüssel in ein Schloß; Reizmomente seitens der Umgebung und Instinkthandlungen des Tieres sind ineinander verzahnt, und es ist im Grunde ein höherer Mechanismus, der den Lebenslauf der animalischen Wesen begründet. Anders der Mensch: er ist aus der Gebundenheit durch den Instinkt hinausgetreten und er ist frei, sein Leben selber zu gestalten. Zwischen Antrieb und Handlung klafft bei ihm ein Abgrund, der erst durch den Entscheid überbrückt wird. Die Möglichkeit der Wahl ist die Möglichkeit des Guten und Bösen, der Verstellung, der Selbsttäuschung und des Willens zum Schein. Das Tier kann sich nicht verstellen, es ist immer, wie es ist ; da es gemäß seiner Natur handelt, kann es niemals «böse» sein. Aber der Mensch ist nicht definiert, von vornherein bestimmt, Wolf oder Lamm zu sein. Seine Freiheit besteht darin, daß er sich selber machen kann zu dem, was er in Zukunft sein soll. Wenn der Mensch das Böse tut, so hat er sich zuvor dafür entschieden; er hat es zuvor gewollt. Die Brutalität auf menschlicher Ebene ist nicht ein Schicksal, ein Handeln nach Natur und Wesensbeschaffenheit, sondern die Entscheidung für das Böse. Seit dem Anfang der Menschheitsgeschichte hat sich der Mensch immer wieder für das Böse entschieden, indem er die menschlichen Probleme durch Gewalttätigkeit zu lösen versuchte ; es erhebt sich nun die Frage, warum die Wahl so oft auf das Böse fiel, das wir gewohnt sind, auch das «Unmenschliche» zu heißen: denn die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte von Gewaltakten, von Mord, Totschlag, Verbrechen und Kriegen, von Mißachtung der Menschenwürde und Erniedrigung des Wesens, das sich des «Lichtes der Vernunft» rühmt.

Ursprung und geschichtliche Wirksamkeit der Gewalt

Der Ursprung des Bösen liegt nicht in der menschlichen Natur, aber in den Daseinsbedingungen, die der Mensch am Anfang der Zeiten auf dieser Erde vorgefunden hat. Hilflos und verlassen den übermächtigen Naturgewalten preisgegeben, des natürlichen Schutzes beraubt, schwach und ständig gefährdet, muß der Mensch zunächst in einem Maße Angst vor der Welt empfunden haben, das an psychotische Zustände grenzt. Die Angst schuf die Illusion der Götter, die sich hilfreich des Menschen annehmen. Sie erfand Formeln der Beschwörung, die Gunst der Himmlischen zu gewinnen. Sich ängstigend begann der Mensch nach Sicherung zu suchen, und der Beginn seiner zivilisatorischen und kulturellen Entwicklung gründet in der Abwehr jener fundamentalen Unsicherheit, die die Lebenssituation des homo sapiens ausmacht. Die Angst entfesselte auch eine starke Aggression, indem die feindselige Umwelt die Kampfbereitschaft ständig in Atem hielt. Es lag nahe, den anderen Menschen als potentiellen Feind zu empfinden. Dazu kamen die Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung, die unter Umständen den Kampf um den Futterplatz notwendig machten. So erschien die Gewalt als ein Ausweg, als ein Mittel, das eigene Leben zu schützen und zu bewahren. Die Verlockung zur Gewalttätigkeit war umso größer, als die sozialen Bindungen noch keinen festen Zusammenhalt ergaben. Und doch machen sich auch schon auf den primitivsten Kulturstufen Regungen des Gemeinschaftsgefühles geltend. Zusammengehörigkeit in Familie, Clan oder Stamm. Ueberall, wo Menschen zu einem gesellschaftlichen Verband zusammentreten, werden Formen von Sitte und Recht wirksam, die im Gemeinschaftsgeist wurzeln. Der Wille zur Macht und Herrschaft wird frühzeitig eingeschränkt durch soziale Bindungen, in denen das Gemeinwesen die Regeln seines Fortbestandes erkennt.

Das Herrschaftsstreben des Menschen ist abgelauscht der dämonischen Melodie der Natur, die den Menschen mit roher Gewalt vernichtet, die sein Heimwesen zerstört und seine Aecker überflutet. Der ängstliche und aggressive Mensch der Vorzeit mußte glauben, im Besitz der Macht die Ueberwindung seiner Nöte gefunden zu haben. Wir sehen dann, daß in den Gemeinschaften selbst die Machtgier ihr Wesen treibt und jede Gruppe sich in Herrschende und Beherrschte scheidet. Häuptling und Priester verkörpern die weltliche und geistliche Macht; Krieger und Priester, König, Aristokratie und Klerus bilden eine regierende Oberschicht, die das Volk unter ihre Botmäßigkeit bringt. Die Geschichte des monarchisch-aristokratischen Systems ist das Epos der Gewalttätigkeit, der Herrschaft Weniger über Viele, mit den Mitteln des Terrors und der Unterdrückung. Sklave und Leibeigene, Paria und Tschandalas, Herren und Knechte, Großbürgertum und Proletariat sind wechselnde Formen der Gewalt von Minoritäten über die Majorität, politische Systeme, die, auf Gewalttätigkeit gegründet, immer wieder nach Gewalttätigkeit rufen. Solange im Aufbau des gesellschaftlichen Gefüges das Unrecht durch die Ungleichheit der Menschen stabilisiert ist, hat die Gewalt freien Spielraum, sie wirkt verlockend und verführerisch, denn in einer gewalttätigen Welt scheint man sich nur schützen zu können, wenn man selber die Macht besitzt. Die Ideologie der Macht, dieser fürchterliche Irrtum des Menschengeschlechtes, durchdringt die Atmosphäre unserer Kultur, und die allseitige Infektion durch den Bazillus der Machtgier muß immer wieder zu jenen epidemischen Äusserungen wie Krieg und Terror führen, die Millionen von Menschen dahinraffen wie die Pest des Mittelalters.

Herr und Knecht

In einer Gesellschaftsordnung, die Herrschende und Beherrschte kennt (es gibt bis heute keine andere!) entstehen zweierlei Mentalitäten, zweierlei Ideologien, die bei aller zeit- oder ortsbedingten Verschiedenheit im Wesentlichen gleich ausfallen: überall, wo es Oberschicht und Unterschicht gibt, entwickeln sich Mentalitäten von Herren und von Knechten. Der Herr schafft aus seiner Situation und seinem Lebensgefühl die Ideologie, daß es immer schon Herren und Knechte gegeben habe und daß diese Herrschaft von Gott oder der Natur gewollt sei. So nennen sich etwa die Könige «von Gottes Gnaden» und zeigen damit an, daß sie ihre Inthronisierung von der göttlichen Instanz herleiten. Der Adel schreibt sich selber «blaues Blut» zu oder — wie im platonischen Mythos — Herkunft aus einem besonderen Menschentum, von einer wertvolleren Beschaffenheit als derjenigen des «misera plebs». Der Bürger und Kapitalist rühmt sich seiner größeren Intelligenz, die ihm ein Vorrecht gegenüber dem Proletarier einräumt. Wie immer sich die Herrschaft ausgestaltet: der Herr begründet seine Stellung durch eine Ideologie des Hochmutes und des Stolzes, die auf dem Postulat der Ungleichheit der Menschen fußt. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Religionen mit Auserwähltsanspruch und Behauptung der «Alleinseligkeit» gehört auch in diese Richtung. In neuerer Zeit hat diesbezüglich auch die Bedeutung des Nationalismus zugenommen. Nationalgefühl und Rassenüberheblichkeit sind Ideenkomplexe, die dem Herrn zu seiner Selbstherrlichkeit noch das gute Gewissen geben; denn um herrschen zu können, muß der Mensch vor sich selbst wie vor den anderen seine Herrschaft rechtfertigen, und er kann dies nur, wenn er sich auf die Ebene der Böswilligkeit begibt, auf der dem Mitmenschen nicht mehr das gleiche Recht und der gleiche Lebenswert verweigert wird. Aus der Ideologie der Herrschenden entspringt der Rassenwahn, der Nationalismus, so wie alle anderen Arten der Intoleranz, die die Menschen voneinander isolieren und eine latente Feindseligkeit begründen.

Auch der Knecht bedarf einer Ideologie, um in der Knechtschaft zu verharren. Denn der Mensch erträgt die Gewalt schlecht; es ist etwas in ihm, das sich gegen sie auflehnt und empört. Die Gewaltanwendung erweckt das Verlangen nach Abwehr, sie will durch Gewalt beantwortet werden. Und so liegt es im Interesse der Herrschenden, dem Knecht Ideologien zu vermitteln, die ihn dazu bewegen, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Er muß zunächst glauben, daß er von Natur zum Knechte bestimmt ist, daß Gott oder die Natur in ihrer Allmacht sein Knechtsdasein vorgesehen haben. Sodann aber muß man ihn lehren, die Leiden dieser Welt nicht allzu ernst zu nehmen. Die Religion tröstet ihn über das Unrecht hinweg, indem sie ihm verheißt, daß er im Jenseits für alle Mühsal und erlittenes Unrecht Vergeltung findet. Auf diese Weise kann der Quietismus, die fatalistische Gesinnung in der Seele des Knechtes Einzug halten. Sein Leid wird sein Adel, denn im Himmel wird nach anderen Maßstäben gemessen als auf Erden. Man predigt ihm die Tugenden des Gehorsams, der Bescheidenheit, der Unterwürfigkeit und der Geduld, mit einem Wor : den Masochismus, und man heißt ihn, in einer gewalttätigen Welt den Nächsten — auch seinen Unterdrücker — zu lieben wie sich selbst. Das Ideal des «guten Knechtes» wird propagiert und demjenigen des «bösen Knechtes» gegenübergestellt, der den Herrn durch Revolte und Auflehnung zur Gewalttätigkeit zwingt. Dazu kommt die nationale, rassische und religiöse Verführung; indem man dem Knecht seine Zugehörigkeit zur besseren Nation, zur wertvolleren Rasse und zur wahren Religion vor Augen hält, schläfert man sein Freiheitsverlangen ein, und der Appell an seine Überheblichkeit ermöglicht es, ihn weiterhin zu erniedrigen. So ist der Knecht immer Opfer und Mitschuldiger der Tyrannei; in seinem Seelenleben präsentiert sich derselbe Sadismus wie in demjenigen des Herrn, und der Knecht gegen oben ist Herr gegen unten: sein Traum ist nicht, «Herren» und «Knechte» aus der Welt zu schaffen, sondern er wünscht, selber Herr zu werden. Die Gewalt bat ihn vergiftet und er besitzt nicht mehr die Kraft, den Traum der allgemeinen Freiheit zu träumen.

Zur Psychologie der Gewalt

Der Weg des Einzelnen in der gewalttätigen Kultur gerät unweigerlich in den Einflußbereich des Macht- und Herrschaftsstrebens. Alle Vorbilder und Ideale, unter denen das Kind unserer Kulturkreise aufwächst, sind vom Machtwillen gefärbt. Der Drang des Menschen nach Selbstvervollkommnung nimmt so unwillkürlich die Leitlinie der Machtgier an; groß sein, mächtig sein wird zum Ziel, das sich die Schwäche setzt, um stark zu werden. Das Blendwerk der Gewalt ergreift von der Seele des Einzelnen Besitz, zu einem Zeitpunkt bereits, wo er noch weder über bewußte Einsicht, noch über ein ausgebildetes Gerechtigkeitsgefühl verfügt. Über diesen Prozeß und die Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungen schreibt Alfred Adler mit bewundernswürdiger Klarheit:

«In die Elternliebe schleicht sich das Gift der Herrschsucht und sucht im Namen der Autorität und der Kindespflicht den Schein auf Überlegenheit und Unfehlbarkeit festzuhalten. Da wird es zur Aufgabe der Kinder, über ihre Erzieher hinauszuwachsen, mit ihnen fertig zu werden. Nicht anders beim Lehrer. Auch die Liebe ist voll von diesen Tücken und fordert vom Partner zu weit gehende Ergebung. Das Machtbegehren des Mannes verlangt mit Berufung auf die natürliche Bestimmung‘ die Unterwerfung der Frau; als Ergebnis zeigt sich, wenig erfreulich, die Zerstörung aller unbefangenen Beziehungen und Lahmlegung wertvoller Kräfte. Die lieblichen Spiele der Kinder verraten dem Seelenkenner ein einheitliches System von Befriedigungen der Herrschsucht.

Die moderne Seelenkunde hat uns aber gezeigt, daß die Züge von Herrschsucht, Ehrgeiz und Machtstreben über den andern samt ihrer Fülle von häßlichen Begleiterscheinungen nicht angeboren und unabänderlich sind. Sie werden vielmehr dem Kinde frühzeitig eingeimpft, das Kind empfängt sie willenlos aus einer Atmosphäre, die vom Machtkitzel getränkt ist. In unserem Blute liegt noch die Sehnsucht nach dem Machtrausch, und unsere Seelen sind Spielbälle der Herrschsucht. Eins kann uns retten: Das Mißtrauen gegen jede Vormacht. Unsere Stärke liegt in der Überzeugung, in der organisierenden Kraft, in der Weltanschauung, nicht in der Gewalt der Waffen und nicht in Ausnahmegesetzen. Mit solchen Mitteln haben auch schon andere, starke Kräfte vergeblich um ihren Bestand gekämpft.

…In der Enge der Kinderstube brechen die Wellen des Machtstrebens der Gesellschaft ein. Die Herrschaftsgelüste von Eltern, Dienstverhältnisse im Hause, die Privilegien des kleinen Kindes lenken unwiderstehlich den Sinn des Kindes auf die Erringung von Macht und Vorherrschaft, lassen ihm nur diese Position als lockend erscheinen. Um einiges später erst fließen Gemeinschaftsgefühle in seine Seele, geraten aber zumeist unter die Herrschaft des bereits ausgebildeten Machtbegehrens. Man findet dann in feinerer Analyse alle Charakterzüge ausgebaut durch das Streben nach eigener Überlegenheit auf der unerschütterlichen Voraussetzung des Gemeinsinns. Tritt das Kind in die Schule oder ins Leben, so bringt es aus der Familie den oben mehrfach geschilderten, dem Gemeinsinn schädlichen Mechanismus mit. Das Ideal der eigenen Überlegenheit rechnet mit dem Gemeinsinn der anderen. Denn das typische Ideal unserer Zeit ist noch immer der isolierte Held, für den die Mitmenschen Objekt sind. Diese psychische Struktur hat auch den Menschen den Weltkrieg mundgerecht gemacht, läßt sie in Bewunderung erschauern vor der haltlosen Größe eines siegreichen Feldherren. Die Gemeinschaftsgefühle erfordern ein anderes Ideal, das des Heiligen, allerdings gereinigt von phantastischen, dem Zauberglauben entstammenden Schlacken. Weder die Schule noch das Leben sind späterhin imstande, das festgewurzelte, übertriebene Streben nach eigener Geltung auf Kosten anderer zu beseitigen. Es wäre eine große Täuschung, den Machtrausch nur für die Einzelpsyche gelten zu lassen. Auch die Masse wird durch das gleiche Ziel gelenkt, und dies wirkt umso verheerender, als in der Massenpsyche das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit wesentlich verringert wird.» (Aus Psychologie der Macht, 1928)

Gewalt und Ethos

Die Kulturentwicklung besteht im Wesentlichen darin, daß sich die Stimme des Menschheitsgewissens mehr und mehr Gehör verschafft und daß der Geist der Verantwortlichkeit anstelle der Gewalttätigkeit tritt. Was wir als ethische Errungenschaften bezeichnen, als Aufschwung in Sitte und Recht, ist das Anwachsen des menschlichen Gemeinschaftsgefühls, das Wissen um die Zusammengehörigkeit aller, die Menschenantlitz tragen. Aus der Einsicht in diesen Zusammenhang erwuchsen die Lehren der sittlichen Führer der Menschheit, die Weisheit des Laotse, das Gebot der Nächstenliebe und die unzähligen Formen des gesellschaftlichen Lebens und Verhaltens, in denen sich der Gemeinsinn bekundet. Was auf uns allen heute noch lastet, ist der Mangel an sozialer Durchbildung. Wir sehen uns noch nicht genügend im Schnittpunkt sozialer Verhältnisse; wir leiden noch an der Fiktion der Macht und der Selbstherrlichkeit des Individuums. Daraus erwächst immer wieder die Verkennung des Gesetzes, unter dem die Menschheit steht: nämlich, daß wir zusammenhalten müssen und genötigt sind, einander die Hände zu reichen. Auf dieser armseligen Erdkruste ausgesetzt, entbrennt für den Einzelnen wie für die Gesamtheit der Kampf um die Erhaltung des Lebens, und es scheint, daß die Probleme der Sicherung, des Fortschritts und der Anpassung am besten gelöst werden können durch die Eintracht aller, durch die gegenseitige Hilfe. Schon der Arbeitsprozeß ist ein gemeinschaftliches Erzeugnis, sich stützend auf das Zusammenwirken von Millionen Händen und Köpfen, aufbauend auf den technischen und zivilisatorischen Errungenschaften unserer Ahnen. In Liebe und Fortpflanzung hat die Natur die Zweiheit der Geschlechter vorgesehen, wiederum eine gemeinschaftliche Aufgabe stellend, lösbar nur für Menschen, die sich als Funktionen innerhalb eines größeren Ganzen empfinden. Von daher weitet sich der Blick auf Fragen der Freundschaft, der Gemeinschaft in Stadt und Land, auf Fragen der Menschheit. Ueberall kommt es auf den Gemeinsinn an, auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Miteinanderseins. Der Abbau der Machtgier und des Gewaltstrebens ist nicht ein Postulat erbaulicher Moralpredigten: er ist die einfache Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Lebens. Man kann die Mahnrufe des menschlichen Gemeinschaftsgefühles wohl unterdrücken; gänzlich ausmerzen kann man sie nie, denn das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewußtsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen. Unsere Aufgabe für die Zukunft scheint vor allem die Pflege und Verstärkung der Gemeinschaftsgefühle zu sein. Kein Mittel darf uns zu gering sein, keine Anstrengung zu mühsam, um den Menschen besser in das soziale Gefüge einzuordnen, ihn zu lehren, daß Gewalt und Machtgier ihn nur ins Verhängnis führen können. In den Worten Shakespeares:

«Nimm Gliedrung weg, mach‘ diese Saite stumm,
Und ach, welch Mißton folgt Die Dinge stoßen
In ewgem Streite sich: es schwillt der Busen
Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend,
Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm;
Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft:
Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot;
Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht, —
Die ewgen Feinde, von Gerechtigkeit beherrscht —
Verlieren samt der Herrscherin
Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt,
Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier,
Und die Begier, ein allgemeiner Wolf,
Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür,
Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt
Zuletzt sich selbst auf.»

(Troilus und Cressida)