INSTITUT FÜR PERSONALE HUMANWISSENSCHAFTEN UND GESELLSCHAFTSFRAGEN IPHG
Arthur Brühlmeier: Menschen bilden
Herausgegeben von der Stiftung «Schule für das Kind» Baden-Verlag 2007
Erika Vögeli
Eine ausgesprochen ermutigende Handreichung für Lehrer, aber auch Eltern, Erzieher und jeden mit Menschen Befassten ist das Buch «Menschen bilden» von Arthur Brühlmeier. Seine «Impulse zur Gestaltung des Bildungswesens nach den Grundsätzen von Johann Heinrich Pestalozzi» könnten aktueller nicht sein. Wie ein Leuchtturm in der Wüste greift das Buch in 27 Mosaiksteinen Grundsätzliches zum pädagogischen Wirken auf und setzt der gegenwärtigen pädagogisch-psychologischen Amnesie seine langjährigen Erfahrungen in Unterricht und Lehrerbildung entgegen, die sich zugleich natürlich mit grundsätzlichen erzieherischen, philosophischen und anthropologischen Gedankengängen verbinden – nicht zuletzt als Frucht seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem grossen Volksbildner Pestalozzi.
Angesichts einer Schulentwicklung, die sich am amerikanischen «Bologna»-Modell orientiert, das letztlich unter dem Diktat der Wirtschaft steht und zu einer steten Uniformierung und hierarchischen Steuerung des Bildungsgeschehens geführt hat, lenkt er den Blick zurück auf das Wesentliche: auf das Kind, auf den Lehrer, auf das, was sich zwischen ihnen als Menschen ereignet, und auf die Frage, was Bildung eigentlich ist. Brühlmeier ist mit Pestalozzi überzeugt: «Auch der Wirtschaft und dem Staat ist am besten gedient, wenn sich die Schulen um die Bildung des ganzen Menschen kümmern und daher nicht seine Verwendbarkeit, sondern seine Menschlichkeit ins Zentrum stellen.»
Wenn er dabei Pestalozzi aufgreift, ist sein Ziel nicht, «der historischen Figur Buchstaben für Buchstaben zu folgen», sondern an den Geist Pestalozzis anzuknüpfen. Es sind zahlreiche Facetten dieses Geistes, die Brühlmeier dabei anleuchtet, mit dem lebendigen Schulalltag von heute in Verbindung bringt und dem Leser in einer Art nahebringt, die eben diesen Geist selber atmet.
Wo wir heute Gefahr laufen, den Menschen auf Hirnstrukturen, neurophysiologische und neurobiologische Abläufe zu reduzieren und jede kindliche Auffälligkeit mit einer entsprechenden Diagnose zu etikettieren, führt Brühlmeier das Denken zurück zum Wesen des Menschen: Natürlich ist der Mensch auch ein biologisches Wesen, erst in der Beziehung zu seinen Mitmenschen aber kann er Mensch werden, und er bedarf dabei sittlicher Orientierung und Bildung, um zu wahrer Menschlichkeit zu finden. So ist denn echte Bildung nicht von Erziehung – «oder wenn man lieber will: moralischer Bildung» – zu trennen. «Guter Unterricht ist immer auch erziehender Unterricht.» (S. 63) Dabei sind Druck, Nötigung und Gewalt keine Mittel, die zu echter Herzensbildung beitragen, obwohl natürlich unmoralischem, asozialem Verhalten klar Einhalt geboten werden muss und solches durchaus einer dezidierten Gegenposition bedarf.
(In: Zeit-Fragen Nr.11 vom 15. März 2010)
Hans-Dieter Schmidt & Evelyn Richter. Entwicklungswunder Mensch
Leipzig/Jena/Berlin: Urania Verlag 1980
Moritz Nestor
Der vordere Buchdeckel zeigt in A4-Format das Photo der zärtlichen Hand einer Mutter, um deren kleinen Finger sich das Fäustchen ihres wenige Monate alten geliebten Kindes ballt. Keine Schrift verstellt das Bild. Die eigentümliche Aussagekraft, die grobkörnigen Schwarz-weiss-Photos innewohnt, wirkt unmittelbar auf die Seele des Lesers. Könnte es ein schöneres Symbol geben für das Urmenschliche, das dieses Bild zeigt? Ein Kind und seine Mutter, Ich und Du. Die Urszene des menschlichen Lebens: die Mutterliebe, mit der das Leben beginnt. Das Ewige in der Menschheitsgeschichte: „Ein neues Licht wird angezündet, ein Stern, der vielleicht ungewöhnlich schön brennen wird, … Ein neues Wesen … küsst die Erde … “ (S. 5). Der Anfang des Menschenlebens ist die Mutter und ihre Liebe: „Vom Du zum Ich“ (S. 86). Was die europäische Pädagogik (Comenius, Erasmus, Rousseau, Pestalozzi, Herder, Schiller, Goethe und viele andere) und was die personalen Schulen der Psychologie (Individualpsychologie, Ich-Psychologie, Neoanalyse, moderne Entwicklungspsychologie, soziale Lerntheorie, personale Anthropologie und andere) schon lange betonten: An Anfang des Lebens steht das Beziehungsgeschehen zwischen Mutter und Kind, kein Trieb oder Instinkt oder Programm, sondern das interpersonale „Ich und Du“. Und aus der liebenden Begegnung des Neugeborenen mit dem mütterlichen Du wächst das Ich des Kindes heran: Vom Du zum Ich.
Während in der BRD ein Zsunami aus Frankfurt Schule, Antipädagogik, „antiautoritärer Erziehung“, Kybernetik, Konstruktivismus und ähnlichem die intellektuellen Eliten die Hochschulen, die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen mit einem kalten Firnis überzieht, unter dem die Familie als Urgrund der lebenden Menschwerdung sich beginnt aufzulösen, bleiben die Menschen in der DDR bei der Familie. Das ist das Eigentümliche, das jeder erfährt, der sich unvoreingenommen mit Menschen aus der ehemaligen DDR unterhält: Während im Westen die Familie aufgelöst wurde, blieb sie im Osten erhalten.
Der Mitbegründer des „Neuen Forums“ und 1990 Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow, Sebastian Pflugbeil, fragte mic einmal, ich solle ihm bitte erklären, was es mit diesem Unsinn der 68er eigentlich auf sich habe. „Das pseudo-intellektuelle Geschrei dieses Dutschke hat mich immer abgestossen“, meinte er. Wieso westliche Wohlstandskinder Familie und Erziehung zugunsten einer antiautoritären Erziehung abschaffen wollten, sei ihm unbegreiflich. Als ich ihm versuchte zu erklären, dass im Gefolge der Frankfurt Schule, die Familie als die „Sozialisationsagentur des Kapitalismus“ und des „autoritären Charakters“ diffamiert worden sei, blickte er mich mit grossen Augen an und meinte: „Das ist doch verrückt!“ Als ich ihm begreiflich zu machen versuche, dass die 68er mit den Theorien liebäugelten, dass jede Autorität schlecht sei, schüttelte er nur den Kopf. Und als ich versuche, ihm zu erklären, dass viele 68er wie besessen waren von der Idee, dass das Kind bei Geburt nach Freud „polymorph-pervers“ sei und die Mutter sein erstes „Triebobjekt“, da war es aus. Zu Recht.
Hans-Dieter Schmidt & Evelyn Richters Buch „Entwicklungswunder Mensch“ ist ein wunderbares Zeugnis für die Immunität des Intellektuellen und des Bürgers der DDR, die heute noch Menschen aus der ehemaligen DDR gegenüber den westlichen antipädagogischen und antifamiliären Ideologien zu eigen ist.
Während zum Beispiel westdeutsche Intellektuelle unter US-amerikanischem Einfluss den Menschen als Trieb- oder Instinktwesen oder Reiz-Reaktion-Wesen denaturieren, lesen wir im „Entwicklungswunder Mensch“ die folgenden erfrischenden Sätze von Karl Marx aus dem Jahre 1867: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Baum ihrer Wachszelle manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. … er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiss, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss … Ausser der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmässige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äussert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt…„.
Das Wohltuende an diesem Buch ist sein unerschütterliches Festhalten an dem was der Mensch von Natur aus ist: Ein Familienwesen, das sich nur in der und durch die Liebe zu Vater und Mutter zum Mitmenschen entwickeln kann. Die Eltern als natürliche Autoritäten und Vorbilder sind die führenden Wächter über die sozialen Anlagen des Kindes: Durch Beobachtung und Identifikation mit den geliebten Eltern – der Bub mit dem Vater, das Mädchen mit der Mutter – findet „Beobachtungslernen von der Autorität der Erzieher“ statt. „Alle Erzieher bemühen sich bewusst oder unbewusst um die Gewährleistung dieser Autorität – dies mit verschiedenen Mitteln. Makarenko hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Er kritisiert falsche Methoden der Autoritätssicherung: Unterdrückung des Kindes und Machtmissbrauch, prahlerische Wichtigtuerei und kleinliche Pedanterie, predigerhaftes Moralisieren, verwöhnende und verzärtelnde Liebe und Güte, kumpelhafte ‚Freundschaft‘, Bestechung durch Geschenke und Versprechungen. Diesen falschen Mitteln setzt er die seiner Ansicht nach richtigen entgegen. Den Eltern rät er: «Die wichtigste Grundlage der elterlichen Autorität kann nur das Leben und die Arbeit der Eltern, ihr Gesicht als Staatsbürger, ihr Verhalten sein … Sie müssen dieses Leben aufrichtig, tatsächlich leben und brauchen sich nicht zu bemühen, es ihren Kindern extra vorzuführen.» … Das Plädoyer Makarenkos stellt die unbefangen gelebte Autorität des ehrlichen, offenen, kritischen, werktätig schaffenden, der Gemeinschaft verpflichteten Erziehers heraus; es brandmarkt jede Form geborgter, aufgeblähter, künstlich geschaffener Autorität. Eine solche natürliche Autorität … schafft zugleich Voraussetzungen dafür, die Lust der Verantwortung zu empfinden und daraus Kräfte zu schöpfen, um den Ernst, die Bürde der erzieherischen Arbeit freiwillig, ja freudig auf sich zu nehmen. Der Lohn bleibt nicht aus: Das natürliche Wunder der kindlichen Entwicklung blüht vor den Augen des Erziehers auf, er kann sich daran ergötzen, er kann es studieren, er kann stolz darauf sein, an seinem Vollzug und seinem Ergebnis – der aktiven, bewusst handelnden und gemeinschaftsfähigen kindlichen Persönlichkeit mitgewirkt zu haben.“ (S. 246) Mit diesen Worten endet das Buch.
Es sind Sätze, die könnten auch aus den hierzulande nach den 1980er-Jahren langsam in die Vergessenheit gedrängten Werken personaler Psychologen und Pädagogen stammen. Oder was erkennt man in den folgenden Sätzen des Buches: „Von Geburt an ist der Säugling als ein soziales Wesen. Er ist zwischenmenschlicher Partnerschaft und zwischenmenschlichen Austauschs bedürftig und biologisch dafür ausgerüstet. … Das Lächeln ist die erste Begrüssungsformel … [das Kind] kann gar nicht anders als zugänglich, freundlich, kontaktbereit zu sein.“ (S. 86f) Es sind aber auch nachdenklich machende, warnende Sätze: Vielleicht sollten wir doch ab und zu den Menschen aus der ehemaligen DDR besser zuhören und weniger schnell lächelnd betonen, dass wir aus einem demokratischen Land kommen.
Dieses Buch jedenfalls ist ein zu unrecht vergessenes Plädoyer der Menschlichkeit, der Familie und der natürlichen Autorität von Vater und Mutter als ewigen Wert. Um es zu wiederholen, weil er so wichtig ist: Durch Beobachtung und Identifikation mit den geliebten Eltern – der Bub mit dem Vater, das Mädchen mit der Mutter – findet „Beobachtungslernen von der Autorität der Erzieher“ statt, zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Kulturen. Das aufzulösen in eine wie auch immer geartete „neue“ Welt eines „transhumanen“ Menschen, ist ein Verbrechen gegen das ewige natürliche Recht des Kindes auf Erziehung durch die ersten Mitmenschen eines jeden Menschen: Vater und Mutter.