INSTITUT FÜR PERSONALE HUMANWISSENSCHAFTEN UND GESELLSCHAFTSFRAGEN IPHG
Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil I
Moritz Nestor
Vortrag, gehalten am am 2. Juni 1989, 19:30 Uhr im Rahmen des Seminars für Entwicklungspsychologie, veranstaltet vom Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM,
fachliche Leitung Annemarie Buchholz-Kaiser
Verehrte Anwesende
Die Menschheit hat sich der seelischen Entwicklung des Menschen auf verschiedenen Wegen genähert. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts begann die Tiefenpsychologie retrospektiv unbewusste Gefühlsanteile des erwachsenen Menschen zu erforschen. Das heisst, man näherte sich den Erlebnissen des Kindes in den ersten Jahren, indem man Erwachsene, die sich wegen seelischer Probleme in die Sprechstunde des Arztes begaben, nach ihren Erinnerungen befragte. Aus dem Erhaltenen versuchte man dann, allgemeine Aussagen über die menschliche Persönlichkeit zu gewinnen, die wiederum in der therapeutischen Situation auf ihre Richtigkeit überprüft werden konnten.
So entstand aus erinnertem Material, also rückblickend gewonnen, eine Persönlichkleitstheorie. Seitdem Freud entdeckt hatte, dass vergessene Erlebnisse aus der frühen Kindheit in unmittelbar ursächlichem Zusammenhang mit den seelischen Erlebnissen des Erwachsenen stehen, hat die Tiefenpsychologie diese Methode immer mehr verfeinert und zum sicheren Instrument wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht.
Einen anderen Weg schlug die moderne Entwicklungspsychologie ein. Sie versuchte sozusagen den umgekehrten Weg zu gehen, indem sie unmittelbar die Mutter-Kind-Beziehung beobachtete und so Gesetzmässigkeiten der Entwicklung des kindlichen Seelenlebens im Prozess der Entstehung selbst zu beobachten. Da der beobachtete Gegenstand in beiden Fällen der gleiche ist, das sich entwickelnde menschliche Seelenleben, können sich die Ergebnisse beider Methoden – vorausgesetzt sie stimmen – nicht widersprechen. Sie müssen sich gegenseitig bestätigen, sonst stimmt etwas nicht.
Ebenfalls müssen die Ergebnisse aller anderen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen, untereinander und mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie und der Entwicklungspsychologie übereinstimmen. Nur so erhält man ein umfassendes in allen Punkten stimmendes wissenschaftliches Menschenbild. Eine Theorie der menschlichen Persönlchkeit und ihrer Entstehung ruht auf einem Fundament. Das Fundament nennen wir die sogenannten anthropologischen Grundlagen. Es sind dies vor allem die Befunde jener Wissenschaften, die uns zeigen, worin die Natur des Menschen, worin seine Eigenarten und Fähigkeiten begründet sind. Auch diese Befunde müssen in einem gewissen Gesamtzusammenhang mit allen anderen Befunden über den Menschen und seine Lebensweise stehen.
Von dieser Seite her kommend finden wir nun Adolf Portmann. Er hat als Biologe und Zoologe die Frage nach der menschlichen Entwicklung gestellt. Er untersuchte sorgfältig die Entstehung der sozialen Lebensweise im Tierreich. Vor allem wollte er wissen, worin die besondere menschliche Lebensart begründet ist, die so stark unter allen anderen Lebewesen heraussticht – die geschichtliche Lebensweise.
Kein Tier hat Geschichte. Der Mensch hat Geschichte. Er ist wesentlich frei geboren, ohne Steuerung durch Instinkte. Er ist das Lebewesen, das von Natur aus Geschichte hat, in ihr lebt und ohne sie nicht leben könnte.
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Vor allem dreht es sich an den folgenden Abenden um die Befunde Adolf Portmanns zur Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen. Im Zentrum steht die Frage, welche Entwicklung die Art Mensch besonders im ersten Lebensjahr durchläuft, bis wir vom Erwachsenen sprechen können.
Gerade das Erstjahr hat beim Menschen nämlich eine hervorragende Bedeutung. Körperliches Wachstum ist im ersten Lebensjahr nicht zu trennen von der seelischen Entwicklung des Säuglings. Gerade in dieser Zeit entwickeln sich wichtige körperliche und seelische Merkmale der menschlichen Natur in einem hochkomplizierten Wechselspiel zwischen körperlicher Entwicklung – wir nennen das Reifung – und den werdenden Sozialbeziehungen des Kindes, in denen Entwicklung aus Lernen besteht. Der Säugling entwickelt sind also in einem Wechselspiel von Reifen und Lernen. Portmann spricht auch von ‚reifendem Lernen‘ oder ‚lernendem Reifen‘.
Dass der Mensch an seiner eigenen seelischen Entwicklung aktiv teilnimmt, hat Alfred Adler beschrieben. Das Seelenleben des Kindes entsteht in einem Wechselspiel zwischen ihm und seiner Umwelt, an welchem es aktiv Anteil hat. Dass der Mensch auch an seiner körperlichen Entwicklung im ersten Lebensjahr aktiv Anteil hat, mag etwas erstaunlich klingen. Adolf Portmann hat jedoch überzeugend nachgewiesen, wie die wichtigsten körperlichen Merkmale des Menschen im seinem ersten Lebensjahr nur in einer vertrauensvollen Beziehung zu seiner sozialen Umgebung entwickeln. Ein Prozess, an welchem der Säugling aktiv probierend, neugierig suchend und auf die Welt ausgerichtet teilnimmt. Sowohl die körperlichen als auch die seelischen Merkmale eines Erwachsenen erlangt der Mensch in einem langen Prozess von Erziehung und Reifung.
Diese Erkenntnisse sind Produkte wissenschaftlichen Forschens des 20. Jahrhunderts und einer langen Entwicklung wissenschaftlichen Denkens seit der Renaissance. Es hat – und das muss man sich einmal vor Augen halten – die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte gedauert, bis der Mensch diese wesentlichsten Grundlagen seiner Natur erkannt hatte. Seitdem sind kaum ein halbes Jahrhundert vergangen – ein halbes Jahrhundert zu Tausenden von Jahren Menschheitsgeschichte!
Dass das Werden des Menschen im Prozess der Erziehung nicht ein einfaches Einprägen von Merkmalen in die weiche kindliche Seele ist, hatte Adler hervorgehoben. Die, wie er es nennt, ’schöpferische Kraft‘ des Kindes zusammen mit einer von Geburt an aktiv auf die soziale Umwelt zustrebenden Haltung, woraus jeweil individuelle Erfahrungen der Umwelt resultieren, war für ihn Grundbestimmung des Menschen. Zusammen mit einer natürlichen Neugierde und Probierfreude machen sie die natürliche Aktivität des Kindes aus, aufgrund deren es aktiv an seiner eigenen Entwicklung beteiligt ist. Am Anfang zwar noch, gemessen an der für das Kind gewaltigen Aktivitäten der Erwachsenen, relativ gering, aber für das kindliche Leben bedeutend.
Beschrieb Adler diesen Sachverhalt von tiefenpsychologischer Seite her kommend, also von der seelsichen Realität des werden oder erwachsenen Menschen her, so ist es Adolf Portmann, der dies von biologischer Seite her untersucht und beschrieben hat. Portmann zeigt, wie die Entwicklung des Kindes zur Reifeform in einer langen Periode der Abhängigkeit geschieht, und wie der Körperbau des Säuglings genau auf dessen seelische Entwicklung abgestimmt ist, und daher seine körperliche Entwicklung untrennbar eng mit der seelischen Entwicklung des Menschen verwoben ist und eine Einheit bilden – ein eigentlich psychosomatisches Geschehen.
Kein Tier ist so lange auf die Hilfe und Pflege seiner sozialen Umwelt angewiesen wie der Mensch. Gerade im erste Jahr seiner Entwicklung spielen sich gewaltige Veränderungen ab: Es lernt, wie Portmann betont, Laufen, Sprechen und Denken.
Das körperliche Wachstum dieser Periode ist enorm. In keiner weiteren Phase der Entwicklung wächst das Kind rascher und verformen sich seine Körperproportionen rascher als im ersten Jahr. Es sind psychische und physische Leistungen, von denen auch Arnold Gehlen (1961) – ein philosophisch orientierter Anthropologe – bemerkt, dass sie die höheren Tiere schon wenige Stunden nach der Geburt zeigen. Ein paar Stunden bei den nächsten Verwandten des Menschen im Tierreich – den Säugern – stehen also einem ganzen Jahr beim Menschen gegenüber – Portmann nennt es das „extraunterine Jahr“, weil in diesem Jahr beim Menschen Funktionen im Kontakt mit der Sozialumgebung entwickelt werden, die bei den Säugetieren im Wesentlichen im Uterus heranreifen.
Das ist beachtlich, vor allem auch, wenn man in Rechnung stellt, was für hochkomplizierte Vorgänge in diesem ersten Jahr geschehen.
Es stellt sich also die wichtige Frage: Was hat es also für den Menschen eine Bedeutung, dass er wesentliche Funktionen seiner Gattung nicht im Mutterleib ausbildet, oder innerhalb der ersten Stunden und Tage nach der Geburt schnell entwickelt?
Adolf Portmann, der Enkel eines unter den Bismarckschen Sozialistengesetzen aus Südbaden in die Schweiz ausgewanderten Sozialdemokraten, ein Biologe aus Basel, beschrieb 1944 in seinem Werk „Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen“ als erster Biologe und Zoologe die wesentlichen entwicklungspsychologischen Vorgänge des ersten Lebensjahres von biologischer Seite her. Deswegen auch der Titel seines bedeutenden Buches: „Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen“. Portmann arbeitete, wie übrigens auch Darwin, mit den Mitteln der vergleichenden Morphologie – das heisst, er arbeitete wesentliche Merkmale der menschlichen Natur dadurch heraus, dass er Körperbau und Funktionen des Menschen im Vergleich mit dem Körperbau – Anatomie – und den Funktionsweisen anderen Arten des Tierreiches verglich und beschrieb. Er wandte hierbei speziell die Methode der vergleichenden Embryologie an, das heisst, er beschrieb die dem Menschen typische vorgeburtliche Entwicklung und sein Zustand als Säugling nach der Geburt, indem er wiederum den Bau und die Funktion des menschlichen Embryos und Säuglings mit dem der anderen Tierarten verglich und beschrieb.
Portmann war auch einer der ersten Verhaltensforscher. Er distanziert sich jedoch begründet von den Methoden einiger allzu begeisterter Anhänger der Darwinschen Evolutionstheorie und Vorläufer heutiger Soziobiologen, die in einer sozialdarwinistisch angewandten Evolutionstheorie plötzlich das Mittel glaubten gefunden zu haben, um zu zeigen, dass der Mensch in seinem Verhalten natürlicherweise auch „nur“ sei „wie die Tiere“, und die zum Beispiel in einem Skatspieler, der mit triumphierendem Blick das Ass zum Stich auf den Biertisch knallt, den „Wolf durchschimmern“ sehen. Wie wir dies der Tendenz nach bei vielen Verhaltensforschern beobachten können, die zwar gute Tierbeobachter, dafür um so schlechtere Psychologen sind.
Ebenso gibt Portmann aufgrund seiner Forschungen jene Sicht vom Menschen auf, die postulierte, dass der Mensch vor- oder nachgeburtlich ein sogenanntes „Affenstadium“ durchmache, wie dies der niederländischer Anthropologe Bolk in den 20er Jahren versuchte zu beweisen. Der Mensch – so Portmann – macht von der ersten Zellteilung bis zur Geburt nicht verschiedene „tierische“ Phasen durch und wird dann „erst“ Mensch. Er wiederholt also nicht exakt in seiner „Ontogenese“ die Stadien der Evolution, wie dies vielfach – zum Beispiel im „phylogenetischen Grundgesetz“ von Johannes Müller – auch angenommen wurde.
Die menschliche Entwicklung ist nach Portmann vielmehr von der ersten Zellteilung im Mutterkörper an eine eigenständige im Tierreich – eben die menschliche Weise der Entwicklung. Portmanns Ansatz ist also, zu beschreiben, was die spezielle menschliche Art der Entwicklung sei, indem er herausarbeitet, was die menschliche Entwicklung bis zum Ende des ersten Lebensjahres speziell unterscheidet von der artgemässen Entwicklung anderer Arten. Sucht also eine Richtung der Verhaltensforschung – etwa Lorenz – nach wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen menschlichem und tierischem Verhalten, so arbeitet eine von Portmann vertretene Richtung der Anthropologie hauptsächlich auch mit der Frage nach den wesentlichen Unterschieden. Da er über der betonung der Unterschiede die wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier nicht vergisst, vermag dieser Ansatz die Sonderstellung des Menschen in der Natur richtig zu erfassen. Weder dichtet dadurch Portmann dem Tier menschliche noch dem Menschen tierische Eigenschaften an, die sie in Wirklichkeit nicht besitzen.
Adolf Portmanns Befunde auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen, dass beim Menschen im ersten Lebensjahr entscheidende Reifungsvorgänge in den Wahrnehmungsfunktionen und in den Bewegungen des Körpers als Lernsituation vor sich gehen – und zwar unter dem Einfluss der sozialen Umgebung. Die Lernfähigkeit des Menschen und die gezielten Einflüsse der Beziehungspersonen sind mit in die biologische Entwicklung des Kleinkindes eingeplant. Dies indem das Menschenkind typischerweise und normalerweise – aber völlig anormal im Vergleich zu den Tieren – ein Jahr „zu früh“ – in Anführungszeichen! – geboren wird und in diesem äusserst hilflosen Zustand dem erziehenden Einfluss der Eltern unterstellt ist. Dies ist keine Anormalität der Natur. Der Mensch ist keine „normalisierte Frühgeburt“. Warum, das werden sie in den nächsten Abenden erfahren.
Was dies für den Menschen bedeutet, und wie hierin seine ganze Sozialnatur, seine Fähigkeit mitmenschlich fühlen lernen zu können, sein geschichtliches Wesen und seine Kulturfähigkeit verankert ist, sollen sie an den folgenden Abenden kennen lernen, indem wir ihnen die Befunde Adolf Portmanns über das erste Lebensjahr des Menschen darlegen wollen.: Der Mensch ist ein Wesen, das natürlicherweise kulturell lebt. Seine Natur ist wesentlich kulturell.
Zum besseren Verständnis der Portmannschen Gedanken, möchte ich Ihnen erst einmal einige Fakten aus der kindlichen Entwicklung im Mutterleib und während des ersten Lebensjahr des Kindes darlegen.
I. Die körperliche Entwicklung des Menschen von der Empfängnis bis zum Ende des ersten Lebensjahrs
Die Entwicklung eines menschlichen Organismus beginnt mit der Befruchtung, der Vereinigung zweier sogenannter Keimzellen: von Samen- und Eizelle. Beide gemeinsam übermitteln die Erbsubstanz, die den Bauplan für den späteren erwachsenen Organismus enthält. Körperliche und seelische Entwicklung unmittelbar nach der Geburt und bis zum Ende des ersten Lebensjahres sind aufs engste miteinander verbunden. Körperliche Entwicklungsprozesse stellen eine unabdingbare Voraussetzung für die seelische Entwicklung dar, und umgekehrt. Vor allem für die Entwicklung des Gehirnes, des Nervensystems und der inneren Drüsen ist dies wichtig. Und die Gehirnentwicklung vor allem ist von enormer Bedeutung für die Entwicklung des gesamten Organismus.
Von der Empfängnis an teilt man nach körperlichen Merkmalen die Entwicklung des Kindes bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres in fünf Abschnitte ein.
- u. 2. Woche: befruchtetes Ei
- bis 10. Woche Embryonalzeit
- Woche bis zur Geburt Fötalzeit und Geburt
- und 2. Woche nach der Geburt Stadium des Neugeborenen
- bis 52. Woche nach der Geburt Säuglingsalter‘
Schon ab der Embryonalzeit – also von der 3. bis zur 10. Woche der Schwangerschaft – kann man zwei grosse Trends im körperlichen Wachstum erkennen, die über die Geburt hinaus anhalten:
1. Der erste Wachstumstrend
Er besteht in einem Fortschreiten des Wachstums vom Kopf abwärts Richtung Beine.Die Entwicklungsfortschritte beginnen bei der Kopfregion und schreiten dann am Rumpf abwärts zum Steiss hin fort. Es werden der Kopf vor dem Körper und die Arme vor den Beinen ausgebildet. Nach der Geburt entwickelt sich dann die Beherrschung der Körperteile nach dem gleichen Trend weiter. Die Beherrschung der oberen Körperregionen wird vor der Beherrschung der unteren ausgebildet. Es handelt sich also im Wesentlichen um einen Trend von oben nach unten.
2. Der zweite Wachstumstrend
Er verläuft von der inneren Mitte des Körpers nach aussen. Die näher am Körperzentrum gelegenen Organe und Körperteile werden früher ausgebildet als die weiter entfernt liegenden Organe und Teile. Nach der Geburt setzt sich auch dieser Trend weiter fort. Der Säugling lernt zum Beispiel zuerst die Steuerung der Arme, dann die der Hände, erst zum Schluss die Feinmotorik der Finger.
Zwei Trends also: Von oben nach unten und von der Mitte nach aussen.
Betrachten wir die Entwicklungsphasen vom befruchteten Ei bis zum Ende des ersten Lebensjahres genauer:
1. ‚Stadium des befruchteten Eis‘
Etwa von der ersten bis zur zweiten Woche: Hier spielen sich keine wesentlichen Entwicklungen ab.
2. Embryonalzeit
Sie beginnt etwa ab der dritten Woche: Zu Beginn ist der Embryo etwa 2,5 bis 3 mm gross und ruht in einem ‚Eihautsack‘, von Fruchtwasser schützend umgeben. Dieses Fruchtwasser bewahrt das Heranwachsende während der gesamten Schwangerschaft vor Erschütterungen. Die Ernährung des Embryos erfolgt zunächst aus einem ‚Dottersack‘, mit dem der Embryo über die Nabelschnur verbunden ist. Während dieser Phase als Embryo entwickelt sich ein erster Ansatz des Zentralen Nervensystems, besonders des Rückenmarks. Wichtige innere Organe werden ebenfalls in Ansätzen bereits ausgebildet: Leber, Lunge, Nieren, Därme. Ein kleines primitives Herz beginnt zu zucken.
Ab der 4.Woche entstehen Arm- und Beinknospen.
Gegen Ende der Zeit als Embryo – also etwa um die 10. bis 11. Woche etwa – ist dann anstelle des Dottersackes eine ‚Plazenta‘ entstanden, über welche nun die Ernährung des werdenden Organismus‘ erfolgt. Sie ist ein stark mit Blutbahnen durchzogenes Gewebe, das zwischen Blutkreislauf der Mutter und dem Blutkreislauf des Kindes geschaltet ist, und mit dem es durch die Nabelschnur verbunden ist. Über die Plazenta erfolgt der Austausch vor Nährstoffen.
3. Fötalzeit und Geburt
Sie beginnt etwa ab der elften Woche, also fast mit drei Monaten. Zu Beginn ist der Fötus etwa sechs Zentimeter gross. Alle wichtigen Organe und Gliedmassen sind in ihrer Grundgestalt bereits ausgebildet. Das entstehende Wesen besitzt bereits deutliche menschliche Gestalt. Er nimmt bereits die typische Hockstellung ein mit vorgeneigtem Kopf und angezogenen Beinen, die er bis zur Geburt beibehalten wird. Der Brustkorb hat sich geschlossen, und die Entwicklung von Knochen, Muskeln und Nerven hat ein Stadium erreicht, welches ermöglicht, Bewegungen mit Armen und Beinen auszuführen. Dies entwickelt sich bis zum Ende des 7. Monats
Mit dem dritten Monat – wir werden später noch sehen, was dies für eine Bedeutung hat – schliessen sich die Augen des Fötus. Mit dem fünften Monat öffnen sie sich wieder. Dies hat eine grosse Bedeutung, ist dies doch ein Vorgang der bei allen anderen Säugetieren auch passiert, nur, dass sie geboren werden, bevor die Augen wieder geöffnet werden. Bei Portmann nimmt dies einen wichtigen Platz ein.
Frühgeburten sind ab dem 7. Monat, also schon zwei Monate vor der natürlichen Geburt etwa, voll lebensfähig, da ab hier alle wichtigen Organe und Körperteile in ihrer Grundgestalt ausgebildet sind. Solche Kinder haben jedoch zuerst einmal Schwierigkeiten beim Lernen des Selbständigen Sitzens, Stehens und Laufens, aber auch in den Anfängen des Spracherwerbs und anderer geistiger Leistungen. Man muss dies beim Einschätzen der Entwicklungsschritte eines solchen Kindes berücksichtigen. Mit fortschreitendem Alter verliert sich jedoch die Bedeutung dieser fehlenden zwei Monate, und etwa mit dem 6. Lebensjahr hat ein solches Kind normalerweise diesen Rückstand kompensiert.
Ende des 7. Monats: Der Fötus ist jetzt 36 cm lang und etwa 1 kg schwer. Die Zeit ab Beginn des 8. Monats bis zur Geburt dient vor allem der weitere Ausreifung des Hirnes und des Nervensystems. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen des Hirnes und des Nervensystems sind durch Nerven miteinander verbunden. Damit diese Nerven Ströme leiten können, was dafür notwendig ist, dass das Hirn funktioniert, müssen sie einen Mantel aus speziellen Zellen bekommen, die sogenannte ‚Markscheide‘ oder das ‚Myelin‘. Er ist regelmässig eingeschnürt, so dass so ein Nerv – salopp gesagt – aussieht wie eine Kette von Würsten. Der Wachstumsvorgang wird ‚Myelinisierung‘ genannt. Er schreitet bis zur Geburt fort und hält während des ersten nachgeburtlichen Jahres an. Ab dem 8. Monat – also kurz vor der Geburt – werden vor allem auch jene Nervenbahnen myelinisiert, die für die Ausführung willentlicher Bewegungen notwendig sind, die sogenannten „Pyramidenbahnen.“ Sie sehen: All dies ist eine gute Vorbereitung für das, was für das Kind nach der Geburt kommen wird.
Ebenfalls während dieser letzten zwei Schwangerschaftsmonate erfolgt ein gesteigertes Längenwachstum, das über die Geburt hin anhält. Man spricht von der ‚ersten Streckung‘. Zwischen vor- und nachgeburtlicher Entwicklung besteht also ein kontinuierlicher Zusammenhang, dessen Bedeutung wir noch genauer sehen werden.
Geburt
Nach der Geburt setzt sich der Myelinisierungsprozess verstärkt fort. Das heisst, dass Hirn und Nervensystem erst nach der Geburt – und das bedeutet im sozialen Kontakt des Kindes zu seiner sozialen Umwelt – zur vollen Funktionstüchtigkeit heranreifen – in einer Zeit also, da das Kind bereits nicht mehr wie ein Organ Teil der Mutter ist und direkt in den mütterlichen Stoffwechsel einbezogen ist. Sondern in einer Phase, wo das Kind über zwischenmenschliche Beziehungen mit der nährenden und pflegenden Sozialumgebung verbunden ist. Eine sozusagen soziale Nabelschnur. Dies wird das Zentrale Thema sein, wenn wir genauer auf die Portmannsche Deutung dieser Vorgänge eingehen werden.
Das Neugeborene ist etwa 52 bis 54 cm gross und wiegt im allgemeinen 3 bis 3,5 kg – Knaben etwas mehr als Mädchen.
Die Geburt ist ein gewaltiger Umstellungsvorgang, wie ihn der Mensch in seinem Leben nie mehr in diesem Masse – relativ natürlich gesehen – durchmacht.
- Der kindliche Körper muss sich selbständig an die Aussentemperatur anpassen.
- Er atmet ab jetzt Sauerstoff, den er zuvor über das mütterliche Blut empfangen hatte. Die Lungenbläschen sind noch mit Schleim angefüllt, der mit dem ersten Schrei ausgestossen wird.
- Er nimmt die Nahrung ab jetzt über den Mund auf und wird nicht mehr über das mütterliche Blut ernährt.
- Er ist mit einer Fülle von Reizungen seiner Sinnesorgane konfrontiert. Vor allem die Augen, die nach einer Zeit der Schliessung vom 3. bis 5. Monat bei Geburt offen sind, werden jetzt grellem Licht ausgesetzt.
Unter normalen Bedingungen geht das alles sehr gut. Die Geburt ist kein Trauma. Sie ist so ziemlich das Normalste, was die Evolution erfunden hat.
Nach der Geburt ebbt der mit dem 8. Schwangerschaftsmonat begonnene Wachstumsschub – die 1.Streckung – bis zum Ende des ersten Lebensjahres allmählich ab. Trotzdem sind die Entwicklungen gewaltig.
Wenn wir die Gewichtszunahme während des ersten Jahres vergleichen, so stellt man folgendes fest:
Neugeborenes: 52 – 54 cm, 3 bis 3½ kg
- Monat: 6 bis 7 kg (Verdopplung)
- Monat: ca. 75 cm, 9 bis 10 kg
Als erstes fällt auf, dass im ersten Lebensjahr die Länge um ca 50%, das Gewicht jedoch auf ca 300% zunimmt! Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das Skelett bei Geburt knorpelig, also sehr elastisch für den relativ engen Geburtskanal war. Eine sinnvolle Einrichtung. Erst im ersten Lebensjahr wird nun erheblich Kalk eingelagert, so dass das ganze Skelett sich verfestigt. Ebenfalls wird die Gewichtszunahme in geringerem Masse durch das Auswachsen der Nervenbahnen und Muskeln bedingt.
Die nachgeburtliche Kalkeinlagerung ist praktisch. Einmal ist dadurch das Skelett für den Geburtsvorgang elastisch. Zum anderen ist die nachgeburtliche Stabilisierung des Skelettes wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Kind Sitzen, Stehen und aufrecht Gehen lernen kann, wozu das Skelett stabil sein muss, um den Körper tragen zu können. Alle diese Wachstumsprozesse bereiten also das aufrecht Sitzen- und Gehen-Können, welches das Kind Ende der ersten Jahres dann lernt, vor.
Weiter fällt auch auf, dass das absolute Wachstum dieser Periode relativ gross ist. In den letzten zwei Schwangerschaftsmonaten wächst der Fötus doppelt so schnell wie nach der Geburt. Dennoch ist das nachgeburtlichen Wachstum enorm, wenn auch die 1.Streckung allmählich nachlässt.
Neugeborenes: 52 – 54 cm
- Jahr: etwa 75cm
Das heisst, die Länge hat im ersten Jahr um ca. 50% zugenommen.
Nur als veranschaulichende Spielerei: Würde das Längenwachstum und die Gewichtszunahme so weitergehen, wie sie während des ersten Lebensjahres verläuft, so würde das so aussehen:
- Jahr 1m, 25kg
- Jahr 1,4m, 70kg
- Jahr: 2 m, 200kg
usw.
In den Tagen nach der Geburt tritt zunächst ein Gewichtsverlust auf, bedingt auch durch die Umstellung in der Nahrungsaufnahme. Nach 2 Wochen ist dieser jedoch in der Regel kompensiert.
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Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen einem Neugeborenen und einem älteren Kind oder gar einem Erwachsenen, wenn man sich die Körperproportionen anschaut, vor allem das Verhältnis der Länge von Kopf zum Rumpf, aber auch das Verhältnis der Länge von Armen und Beinen zur Gesamtlänge des Körpers. Arme und Beine sind im Verhältnis zum Rumpf wesentlich kürzer als bei älteren Kindern oder beim Erwachsenen.
Der im Verhältnis zum Rumpf grosse Kopf des Neugeborenen und die Ausbildung des Gehirns bei Geburt bilden die auffallendste Eigenart des Menschen. Bei ihm ist die sogenannte Cerebralisation, das meint die Ausbildung und Leistungsfähigkeit des Gehirnes, am weitesten in der Natur fortgeschritten. Er hat, wie man daher sagt, das am höchsten entwickelte Gehirn in der Natur. Alle anderen körperlichen Entwicklungen hängen von der Entwicklung des Gehirns ab.
Im 5. Schwangerschaftsmonat macht der Kopf etwa 1/3 der Körpergrösse aus.
Beim Neugeborenen etwa noch 1/4.
Beim Erwachsenen noch 1/8.
Stellen Sie sich einen erwachsenen Menschen von 1.80 m vor. Stellen Sie sich vor, sein Kopf wäre proportional zum Körper gewachsen, er hätte einen Kopf von ca. 60 cm Durchmesser. So wird Ihnen das Verhältnis sinnfällig, und Sie verstehen leichter, dass das Menschenkind nicht wie ein Kalb zum Beispiel zur Welt kommt, welches schon fast die Körperproportionen eines Alttieres hat, nur verkleinert.
Das alles entspricht jenem Wachstumstrend ‚von oben nach unten‘, von dem wir oben schon gesprochen haben.
Die relative Grösse des Kopfes beim Neugeborenen hängst mit der Entwicklung von Gehirn und Nervensystem zusammen. Der Kopf und das Gehirn werden schon früh gebildet. Da das Gehirn schon – was die Anzahl der ausgebildeten Hirnzellen betrifft – bei Geburt völlig ausgebildet ist, und da es hierin schneller gewachsen ist als der Rest des Körpers, ist es auch schneller gewachsen als der Rest des Kopfes. Dementsprechend ist der Hirnschädel grösser und der Gesichtsschädel entsprechend kleiner als beim Erwachsenen. Nur die Augen haben schon die Hälfte ihrer endgültigen Grösse erreicht, was dem Gesicht des Neugeborenen sein charakteristisches Aussehen verleiht. Vor allem sind die Hirnteile, die die lebenswichtigen Funktionen – Atmung Herztätigkeit, Blutkreislauf, Regulation der Bluttemperatur und des Blutzuckerspiegel – bei Geburt schon voll funktionstüchtig. Das Gehirn des Neugeborenen wiegt etwa 1/4 eines erwachsenen Gehirns. Es nimmt im Verlaufe der ersten neun Lebensmonate noch einmal um die Hälfte zu.
Das Grosshirn – also vor allem auch jene Bereiche, die für bewusste Handlungen nötig sind – ist bei Geburt im Aufbau fertig, aber seine Funktionsfähigkeit ist begrenzt, da die Zellen zum Teil noch zu klein sind, und ihre Nervenendigungen noch nicht leiten können. Anders als alle anderen Körperzellen kann das Gehirn abgestorbene Zellen nicht wieder ersetzen. Ein weiteres Ausreifen des Gehirns nach der Geburt besteht im Wesentlichen im Ausreifen der schon bestehenden Zellen und der Ausbildung von dazwischenliegendem Stützgewebe.
Die frühe Entwicklung des Gehirns hat ebenfalls einen Sinn. Wird doch das Steuerungsorgan des gesamten Organismus – und als ein solches müssen wir das Hirn und das Nervensystem auffassen – sinnvollerweise zuerst gebildet. Auffallend ist jedoch, dass der Mensch mit einem Hirn zur Welt kommt, welches nicht mehr unter Bedingungen des Mutterleibes zur vollen Funktionstüchtigkeit ausreift, sondern unter sozialen Bedingungen. Das zentrale Steuerungsorgan, das Organ der Wahrnehmung, der Empfindungen, Grundlage aller bewussten und unbewussten Handlung wird also beim Menschen nicht fertig zur Welt gebracht, sondern reift erst nach der Geburt unter wesentlichen prägenden Einflüssen der menschlichen Sozialität aus.
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Das Überleben des Neugeborenen ist durch einige wenige Reflexe gesichert:
- Der Inspirationsreflex, also die spontane Einatmung
- Der Saugreflex: Das spontane Nuckeln an der Brust.
- Der Schluckreflex: Es muss nicht Schlucken lernen.
- Der tonische Nackenreflex: Er tritt schon im Mutterleib auf und besteht etwas einen Monat nach der Geburt noch weiter. Er ist dafür verantwortlich, dass das Neugeborene im Wachzustand seinen Kopf automatisch zur Seite dreht. Dabei streckt es Arm und Bein der Seite, zu der es sich dreht und winkelt Arm und Bein der anderen Seite, von der es sich wegdreht, an. – Sie können es ja ‚mal im Geiste nachmachen. Das erleichtert die Trinklage an der Brust und lenkt die Blickrichtung des Säuglings auf die eigene Hand. Wenn man zudem noch berücksichtigt, dass die Augen des Säuglings zuerst nur in einer Entfernung scharf sehen können, die in etwa der Entfernung der Gesichter von Mutter und Kind entspricht, wenn dies im Arm der Mutter liegt, dann ist hier eine ntürliche Ausstattung zu erkennen, die lebenswichtige Funktion hat.
- Ausser diesen vier Reflexen sind noch der sogenannte Klammerreflex, der die Hand des Säuglings automatisch um einen Gegenstand schliessen lässt, zu beobachten und
- der sogenannte Fusssohlenreflex.
Diese beiden letzteren sind aber für das Überleben des Kindes nicht ausschlaggebend.
Das Verhalten des Menschen ist von Geburt an äusserst wenig automatisiert, wenig ist ihm vorbestimmt durch Reflexe. Er ist im Wesentlichen frei. Frei aber nur im Rahmen der Gesetzmässigkeiten seiner Natur, und – gelenkt von den kulturellen Werten, die er durch seine Umwelt vermittelt bekommt. Der Mensch ist, wie Portmann dies auch betont, instinktreduziert.
Sinnvollerweise bringt er ein fast fertiges Grosshirn mit auf die Welt, das jene Lernvorgänge lenken lernt, die im Laufe des ersten Lebensjahres von so elementarer Bedeutung sind. Das Laufen-Lernen, das Sprechen-Lernen, das Denken-Lernen.
Die Körperorganisation des Säuglings und die Art seines Wachstums im ersten Lebensjahr ist auf dieses Ziel hin gerichtet. Die Stabilisierung des Knochengerüstes bereitet auf den aufrechten Gang vor. Das Gehirn braucht nur noch wenige Schritte, bis es immer mehr anfangen kann seine Funktion als Steuerungsorgan zu erfüllen. Und das Gehirn ist die Voraussetzung, dass im Kontakt mir der Mutter der erste Spracherwerb stattfinden kann.
Die relativ kurzen Beine des Säuglings, die im Vergleich zur Gestalt des Erwachsenen unproportioniert kurz wirken, sind sinnvollerweise so, denn auf solch kurzen Stumpen lernt es sich leichter, das Gleichgewicht zu halten.
Vor allem aber haben wir jetzt bereits gesehen, dass das Neugeborene ein absolut hilfloses Wesen ist, das völlig von der körperlichen und emotionalen Pflege seiner Umwelt abhängig ist. Dies ist – wie wir das aus dem Munde Portmanns dann das nächste Mal genauer erfahren werden – kein pathologischer Zustand, sondern normal.
Verehrte Anwesende, Sie haben jetzt einige wenige wichtige Fakten über die körperliche Entwicklung des Kindes von der Empfängnis bis zum Ende des ersten Lebensjahres gehört.
Geleitet allein durch die bisherigen Ausführungen, dürften Sie vielleicht jetzt bereits eine kleine Ahnung erhalten haben, wie tiefgreifend die soziale Lebeweise im menschlichen Organismus verankert ist. Wenn sie sich dieses Wesen vor Augen halten, welches mit wachen Augen bereits die Welt wahrnimmt, das aber einen solch gebrechlichen Körper besitzt, der ein volles Jahr braucht, bis er laufen kann, dann haben sie eine erste Ahnung davon bekommen, was es heisst, wenn wir davon sprechen, dass die soziale Lebensweise ein Bestandteil der menschliche Natur ist, und dass es keinen irgendwie gearteten natürlichen antisozialen Instinkt geben kann. Es wäre der frühe Tod dieser Spezies gewesen.
Man kann allerdings auch erahnen, welch grosse Bedeutung für dieses werdende Wesen die richtige Anleitung der pflegenden Umgebung ist, und welch zerbrechliches Gut hier in den Händen der Erzieher liegt. So hilflos dieses kleine Wesen ist, so wenig ihm natürliche Aggressionen innewohnen, so sehr kann es durch unangepasste erzieherische Einflüsse – obwohl gutgemeint, aber dennoch falsch – gequetscht werden.
Die Frage für den Erzieher also ist, welche Bedeutung diese körperliche Entwicklung des Menschenkindes hat, damit er erkennen kann, wie sehr sich in ihr die kulturelle Natur des Menschen ausdrückt. Dies hat Adolf Portmann als Biologe und Zoologe erforscht, seine Forschungen gehören jedoch weit darüber hinaus zu den Grundlagen einer Lehre von der auf lernendem Reifen und reifendem lernen aufbauenden Erziehbarkeit des Menschen. In diesem Sinne können sie für den bewussten Erzieher ein sicheres Fundament für seine Erziehungsaufgabe bilden.
Johann Gottfried Herder
Und nun möchte ich nochmals auf die geschichtliche Dimension dessen zurückkommen, was wir heute begonnen haben und an den nächsten Abenden fortsetzen werden. Der deutsche Philosoph Herder schrieb vor mehr als hundert Jahren in seinen bedeutenden Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“[1]Gedanken nieder, die die späteren anthropologischen Befunde des 20. Jahrhunderts bei Adler und bei Portmann ahnend vorwegnehmen. Ich möchte Ihnen zum Abschluss des heutigen Abends hieraus noch einiges vortragen:
Herder betont, dass der Mensch nicht wie eine Pflanze entsteht, die alles, was sie später ist, als Keimanlage in sich trägt und diese ohne Hilfe anderer Pflanzen entwickelt. Nach Herder ist der Mensch der erste „Freigelassene“ der Natur. Hiermit ist im ausgehenden 18. Jahrhundert die anthropologische Tatsache formuliert worden, dass der Mensch weitgehend instinktreduziert, frei ist seine Orientierung in der Welt selbst zu gestalten. Frei aber nicht im Sinne einer Freiheit von seiner Naturbestimmung. Seine Freiheit ist nur sinnvoll, wenn sie in Zwischenmenschlichkeit eingebunden ist. Der Mensch ist zur „Beihülfe“ eingerichtet.
Der Mensch entspringe „nicht aus sich“, sagt Herder. Jede „Entwicklung“ des Keimes, aus dem sich der Mensch entwickelt,
„hängt vom Schicksal ab, das uns hier- oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jahren die Hülfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das Auge musste sehen, das Ohr hören lernen; und wie das vornehmste Mittel unsrer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Natur“[2]-
so Herder – den Menschen so eingerichtet, dass er seine Fähigkeiten nur mit Hilfe der Umwelt ausbilden, das meint erlernen kann. Er sagt, dass der Mensch zur „fremden Beihülfe eingerichtet“ sei.[3]
„Das Hirn der Kinder“ – so Herder – „ist weich und hangt noch an der Hirnschale: langsam bildet es seine Streifen aus und wird mit den Jahren erst fester, bis es allmählich sich härtet und keine neuen Eindrücke mehr annimmt. So sind die Glieder“ des Kindes „zart und zur Nachahmung eingerichtet.“ Seine Sinnesorgane „nehmen, was sie sehen und hören, mit wunderbar reger Aufmerksamkeit und innerer Lebenskraft auf.“ Der Mensch ist nach Herder ein Organismus, bildbar und mit
„einer Fülle von Leben begabt, aber die Maschine spielt sich nicht selbst und auch der fähigste Mensch muss lernen, wie er sie spiele. Die Vernunft ist […] eine Summe der Erziehung unseres Geschlechts, die nach gegebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein Künstler an sich selbst vollendet. Hier also liegt das Prinzipium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äusseren Gegenständen“
– dass heisst wären alle geistigen Eigenschaften vererbt und entstünde nicht im lernenden Wechselspiel und mit Hilfe der Umwelt –
„so wäre zwar eine Geschichte d e s Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als auch die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, das ist eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.“[4]
„Schränkte ich […] beim Menschen alles auf Individuen ein und leugnete die Kette ihre Zusammenhanges sowohl untereinander als mit dem Ganzen, so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgangen.: denn kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch geworden. […] Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen […] indem lebendige, und ähnliche Wesen dazu gehören, uns zu unterrichten, zu gewöhnen, zu bilden; mich dünkt, es eine Erziehung des Menschengeschlechts und eine Philosophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr es eine Menschheit, das ist eine Zusammenwirkung der Individuen gibt, die uns allein zu Menschen macht.“
Prinzip menschliche Geschichte aber, so Herder, seien
„T r a d i t i o n und o r g a n i s c h e K r ä f t e. Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Übung, also durch Übergang der Vorbildes in’s Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen? Der Nachahmende aber muss Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es, wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Dies also macht die menschliche Kultur aus, die in seiner Natur begründet liegt.“[5]
Ich habe ihnen, ehe ich an den nächsten Abenden auf die eigentlichen Befunde Portmanns zum menschlichen Erstjahr, und in diesem Zusammenhang auch auf das Bild von der natürlichen Kulturfähigkeit des Menschen, das heisst sein geschichtliches Wesen, eingehen werde, zuerst einmal versucht, die wichtigsten körperlichen Abläufe der Entwicklung des Säuglings aufzuzeigen. Gleichzeitig deutete ich die Befunde Portmanns dazu an und versuchte dies in einem grösseren, geschichtlichen Rahmen zu stellen. Sie werden an den nächsten Abenden sehen, wie das, was wir oben von Herder hörten, in Portmanns Forschungen feste wissenschaftliche Gestalt annimmt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Felix Meiner, Leipzig o. J.