«Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.»

Zeit-Fragen, 11. 7. 2023

von Moritz Nestor

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Anlässlich der Generalversammlung der Hippokratischen Gesellschaft Schweiz am 29. Juni 2023 in Zürich war die Öffentlichkeit zu einem Podiumsgespräch eingeladen, das sich mit dem Berufsverständnis des Arztberufes und der Pflegeberufe befasste. Der folgende Text ist die gekürzte Version des Beitrags, den der Autor beisteuerte.

Im Lazarett in Görlitz, Pfingsten 1943. 
(Bild zvg)

Woraus besteht das Wertvolle der Heil- und Pflegeberufe? Ich möchte dazu am Beispiel meines Vaters etwas zeigen – und zwar an seiner Dankbarkeit gegenüber jener Krankenschwester, die ihn 1943 im Lazarett Görlitz lange, lange Monate gesundgepflegt hat. Seinen Dank, dass sein Leben damals gerettet werden konnte, hat er auch an mich weitergegeben. Ich habe von Sir Francis Bacon (1561–1626) ein Wort gefunden, das gut dazu passt: «Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.» Der moderne Mensch stutzt. Er hätte es umgekehrt gesagt. Mir scheint oft, dass wir Heutigen fast vergessen haben, was es eigentlich heisst, dankbar zu sein.

Mein Vater kam 1943 nach mehr als dreitausend Kilometern Verwundetentransport, kaum noch lebendig, im Reserve-Lazarett Görlitz an, wo er mehr als ein halbes Jahr lag, bis sein Kopfschuss und seine Erfrierungen ausgeheilt waren. Dort erhielt er auch die Todesanzeige seines geliebten Freundes Otto, «Gefallen im Osten». Sie waren 1935 zwanzig strahlende Abiturienten gewesen. 1945 lebten noch zehn.

Auf dem einzigen erhaltenen Foto aus der Lazarett-Zeit stehen am Kopfende des Krankenbettes mein strahlender Grossvater und, bei ihm eingehakt, Schwester Hilde, die Krankenschwester, die meinen Vater gesundpflegte. Der Görlitzer Standortpfarrer Heuser besuchte ihn immer wieder und schenkte ihm ein kleines Neues Testament, das in die Brusttasche einer Uniform passte. Vater hat es 1974, wie er darin vermerkt hat, neu binden lassen, denn es zerfiel bald vom vielen Lesen, und zwar gerade jene Verse, wo es um den Widerstand gegen die «Werke das Satans» geht. Die Eltern, Schwester Hilde und der Pfarrer trugen meinen Vater durch jene schwere Zeit seelisch im wahrsten Sinne dieses Wortes.

Mein Vater war in grosser Dankbarkeit gegenüber den Eltern und den alten Menschen erzogen worden, von denen die Kinder alles bekommen, um leben zu können. Unter den Nazis war aus ihm ein typischer jugendlicher Besserwisser geworden, der nun gerne den «Alten» die «neue Zeit» unter die Nase rieb.

Mit unerbittlicher Wucht machte am 6. Januar 1943 in einem Kessel nordwestlich von Stalingrad eine russische Granate in einem schrecklichen Augenblick aus einem stolzen Oberleutnant ein Nichts. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte und allmählich verstand, dass es etwas gab, das einen einfach vernichten konnte, da überkam ihn Scham, denn er erinnerte sich als erstes an einen alten Schuster, den er etwa zehn Jahre zuvor als frisch gebackener SA-Jugendlicher angepöbelt hatte: «Alter, es gab keinen Jesus.» Der Alte antwortete ihm damals verlegen lächelnd: «Junger Herr! Passen Sie auf, eines Tages wird Gott Sie anrühren, nur so mit dem kleinen Finger wird er Sie anrühren, und dann werden Sie daliegen und werden merken, dass es Gott ist.» Vater aber dachte nur: «Du dummer Schuster!» Wie man eben mit 18 so denkt. Er hatte den alten Schuster gründlich vergessen. Nun dachte er wieder an ihn, beschämt, denn er hatte doch das göttliche Gebot gelernt, dass man das Alter ehren solle. «Vielleicht komme ich heil heim, er hat mich angerührt; nun weiss ich, dass es Gott gibt», stammelte er. Nach Hause gefahren worden ist er, hilflos wie ein kleines Kind, durch die Schneewüste des russischen Winterrückzuges, auf dem Pferdeschlitten, im Sanitätskraftwagen, im Güterwagen, dreitausend Kilometer und noch mehr.

Die Scham machte aus Vater einen reuigen Sünder, der begann, sich aus den Verstrickungen des Lebens zu erheben, sich aus dem Sumpf emporzuarbeiten, und der die Kraft suchte, alles hinter sich zu werfen. 1948 schrieb er seiner neuen Liebe, meiner späteren Mutter: «Ich wollte einmal den Himmel des Ruhmes stürmen. Nun lächle ich über den eitlen kleinen Narren in mir und bin froh, wenn es mir vergönnt ist, einen kleinen Hügel zu besetzen, dort mein Haus zu bauen und von dort nach unten zu wirken, indem ich nach oben sehe und mich von dort her orientiere.» So lernte er manche guten und schlechten Seiten des Lebens besser kennen als die Selbstgerechten.

Wie mein Vater sie nach dem verfluchten Ende des verfluchten Krieges wiedergefunden hat, weiss ich nicht. So lange aber, wie Schwester Hilde lebte, kam sie regelmässig, zuletzt mit schlohweissen Haaren und mit krummem Rücken, zu uns in die Familie auf Besuch, und Vater hielt die Beziehung zu ihr immer in hohen Ehren, war ihr dankbar – ein Leben lang. Als er nach dem Krieg als Studienrat Mathematik und Physik zu unterrichten begann, kam Schwester Hilde auf seine Bitte hin zu ihm in die Klassen und erzählte den staunenden Kindern, wie er 1943 zerschunden und halb tot zu ihr auf die Abteilung gekommen war.

In ihrer Gegenwart war er, der schnell aufbrauste, ein anderer. Er nannte sie herzlich «Schwester Hilde», und sie begrüsste ihn immer herb herzlich: «Wie geht es, Nestor?» Als sie über achtzigjährig starb, hinterliess sie einen schwarzen Stock mit silberner Krücke, an dem sie die letzten Jahre gegangen war und den Vater in andenkenden Ehren hielt. Sie war ihm Schwester gewesen in seiner schwersten Zeit.

Fast dreissig Jahre, bis ans Ende des Lebens von Schwester Hilde in den frühen siebziger Jahren, blieb die ehemalige Krankenschwester aus dem Lazarett Görlitz 1943, die ihm damals ihre Hilfe schenkte, mit dem in seiner «Matratzengruft» beschenkten Oberleutnant durch einen unsichtbaren und ungeschriebenen Vertrag verbunden. Und dies geschah aus freien Stücken. Denn wirklich dankbar kann man nur freiwillig sein. Der Vertrag zwischen den beiden war die Treue, die durch solche menschlichen Bindungen entsteht.

Nie waren sie per Du, blieben immer beim Sie. Aber in ihrem tiefen gegenseitigen Respekt berührten sie, jenseits und tiefer als das Du es könnte, das Urmenschliche, das die Heil- und Pflegeberufe ewig macht. Er war ihr ewig dankbar. Solange sie lebte, aber auch über ihren Tod hinaus – bis auch er, 1980, starb. Fast ein halbes Jahrhundert lang hielt dieses Band der Treue.

Ich habe «ewig» gesagt. Es gibt Berufe, die kommen und gehen wie die Mode. Die Pflege- und Heilberufe aber sind immerwährende Berufe. Ewige. Denn es ist ein ewiges Schicksal, dass wir Menschen krank werden, dass wir seelisch leiden und dass wir Hilfe brauchen. Das Heilen und Pflegen kommt daher nicht und geht wieder – so wie die Völker und Kulturen in der Menschheitsgeschichte kommen und gehen.

«Schwester» war einmal die Ehrenbezeichnung für die unersetzbare mitmenschliche Dimension der Krankenpflege. Nachttöpfe leeren und Essen bringen kann jeder. Pflegen aber ist mehr. Pflegen ist keine Technik. Man kann nicht effizienter, schneller, rationeller pflegen, Man kann Pflege nicht programmieren. Und wo man es trotzdem versucht, schafft man Leiden.

Es gehörte in allen Hochkulturen zu der besonderen und nur ihr eigenen Würde der Frau, dass sie Leben schenken kann. Es war ein Teil dieser Würde, dass die Frauen zu Schwestern der Kranken wurden. Zu Krankenschwestern. Wieso begannen am Ende des 19. Jahrhunderts Frauen in den von Männern geführten Kriegen, im Dienst am Leben Kranke und Verwundete zu retten und zu pflegen? Dass Frauen als Schwestern nicht dem Krieg, sondern dem Leben dienten, war das menschliche Licht auf den Gesichtern ihrer leidenden Männer und gab ihnen ein Stück Hoffnung wieder: Es gibt doch noch etwas anderes als Töten. So wie Schwester Hilde 1943.

Die Gesinnung der Dankbarkeit, die in meinem Vater wieder erblühte, als sein Leben 1943 gerettet wurde, entfachte wieder neu jene «eigentümliche Wärme des menschlichen Bezugs, die aus dem Bewusstsein des Verpflichtetseins entspringt» (Bollnow[1], S. 130). Eine Wärme des Herzens, die wie ein erstes kleines Frühlingspflänzlein die Schnee- und Eisdecke durchschmolz, die der Nationalsozialismus über das Herz gebreitet hatte. Dankbarkeit – wie die meines Vaters gegenüber Schwester Hilde – unterscheidet sich von allen anderen Formen des Gebens und Nehmens dadurch, dass hier «nicht unmittelbar Leistung gegen Leistung ausgetauscht wird, sondern in einer nicht voraussehbaren und darum auch grundsätzlich in keiner vertraglichen Weise zu regelnden Form eine freiwillig und ohne Anspruch auf eine Gegenleistung gegebene Leistung im andern Menschen die Bereitschaft erzeugt, bei in Zukunft eintretenden Fällen, mit einer freiwilligen und durch keinerlei vertraglichen Zwang zu erwirkenden Leistung zu antworten. Eben in dieser freiwilligen und über alle ausgesprochenen und unausgesprochenen Verabredungen hinausgehenden Weise liegt die besondere Würde des durch die Dankbarkeit gekennzeichneten menschlichen Verhältnisses.» (Bollnow, S. 130)

In einer dankbaren Gesinnung sehen wir in einem Mitmenschen, der uns etwas schenkt, kein Mittel zum Zweck, sondern wir spüren, wie wärmend und lebensspendend ein würdiges, weil reines menschliches Verhältnis ist – das uns freiwillig geschenkt wird und das jede rationale Zweckmässigkeit eines Geschäfts unendlich überragt. Denn das Füreinander-dasein ist ein Geschenk, «das man unverdient empfängt. Dadurch unterscheidet sich das Geschenk von dem, was man sich durch Verdienst erwirbt oder durch Bezahlung erkauft oder gar durch rohe Gewalt erzwingt.» (Bollnow, S 131)

Ist nicht – wie jene Schwester Hilde – jeder Arzt irgendwo immer auch ein Schenkender? Er schenkt sich und seinKönnen. Ob er es immer weiss? Es ist die Natur, die heilt. Aber er kann etwas und weiss etwas und kann es anwenden, bei diesem einen individuellen Fall hier, und er kann – so hoffen wir – doch Schaden vermeiden und Lebenskräfte wieder wecken, so dass die Natur ihre Heilkräfte wieder entfalten kann. Immer aber ist er der Wichtigste. Das beginnt mit seiner teilnehmenden Frage: «Wie geht es Ihnen? Was fehlt Ihnen?» Und es endet mit dem tiefen warmen Blick eines Wiedererwachten aus seinem Kopfkissen: «Danke, Herr Doktor, dass Sie mich als ganzen Menschen gesehen haben und nicht nur als ein kaputtes Organ.»

Ein Geschenk kann man nicht fordern. Es fällt einem zu, ohne dass man «in Vorleistung getreten» wäre. Der reife Erwachsene weiss, «dass der Mensch grundsätzlich niemals imstande ist, aus eigener Kraft zu leben, dass ihm vielmehr das Beste immer geschenkt werden muss.» (Bollnow, S. 136f.) Ehe wir Menschen eigenständig leben können, sind wir während einer langen Kindheits- und Jugendperiode vollkommen Geschöpf unserer Kultur, in Person unserer Eltern und Lehrer, durch die wir die Kultur und deren Reichtum geschenkt bekommen. Das erste Geschenk unseres Lebens aber ist die Liebe der Mutter. Ohne dass das Kind in Vorleistung träte, es käme uns das absurd vor, schenkt sie dem neuen Leben ihre Liebe. Diese Liebe weiss von keinem Zwang. Und das nach menschlicher Beziehung aktiv strebende Neugeborene beginnt an der Liebe der Mutter sich zu erkennen: Man liebt mich, also bin ich von Bedeutung. Und dankbar streckt es seine Ärmchen nach dieser Quelle aus. Am erwachsenen Du rankt sich das werdende kindliche Ich dankbar empor und wächst. Diese Liebe zur Mutter ist der Ausgang aller Ethik – auch der der heilenden und pflegenden Berufe, der Medizin. Nimmt man ihr diesen ethischen Grund, dann nimmt man ihr auch ihre Aufgabe – und sie verdorrt zu einer «Medizin ohne Menschlichkeit».  •

[1] Bollnow, Otto Friedrich. Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus. Stuttgart 1955

«Schicksalsgefährte werden mit dem Kranken»

«Das Höchste, was dem Arzt hier und da gelingt, ist, Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken, Vernunft mit Vernunft, Mensch mit Mensch, in den unberechenbaren Grenzfällen einer zwischen Arzt und Kranken entstehenden Freundschaft. […] Dann darf man fragen, ob nicht die ärztliche Persönlichkeit auf eine legitime Weise selber zu einer heilenden Kraft wird, ohne Zauberer oder Heiland sein zu müssen, ohne dass Suggestion, ohne dass irgendeine andere Täuschung vorliegt. Die Gegenwart einer Persönlichkeit mit ihrem Willen zum Helfen, einen Augenblick ganz für den Kranken da, ist nicht nur unendlich wohltuend. Das Dasein eines vernünftigen Menschen mit der Kraft des Geistes und der überzeugenden Wirkung eines unbedingt Gütigen weckt im anderen, und somit auch im Kranken, unberechenbare Mächte des Vertrauens, des Lebenwollens, der Wahrhaftigkeit, ohne dass darüber ein Wort fällt. Was der Mensch dem Menschen sein kann, erschöpft sich nicht in Begreiflichkeiten.»

Karl Jaspers, in: Lindenberg, Wladimir. Schicksalsgefährte sein, München 1985, S. 14