Geschlechtsrollenerwerb als sozialer Prozess nach Alfred Adler

Von Marianne Wüthrich-Haslimann

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1 Einleitung

Die Rollenzuweisung für Mann und Frau ist heute oft nicht mehr offen erkennbar und wird zudem häufig durchbrochen. Dennoch stellt der genaue Beobachter fest, dass die Annahme von geschlechtsspezifischen Unterschieden im Charakter, im Verhalten, im Gefühlsleben und in den Neigungen immer noch weit verbreitet ist.

In der Literatur über die Mädchenerziehung um 1900 kommen diese Vorstellungen viel klarer und eindeutiger zum Ausdruck als in vielen aktuellen Werken. Dies zeigt, dass die Art und Weise, wie Mädchen ihre Geschlechtsrolle erwerben, sowie der Inhalt dieser Rolle immer als Spiegel der kulturellen Situation in der jeweiligen Zeit zu sehen sind.

Ausgehend von dieser Tatsache habe ich mir die Aufgabe gestellt, die allgemeine, kulturelle Situation des Mädchens in der Zeit um 1900 sowie sein individuelles Hineinwachsen in eine Zukunft als Frau darzustellen. Bezüglich der gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse beschränke ich meine Ausführungen auf die bürgerliche Familie innerhalb des abendländischen Kulturkreises. Nur dort, wo die materielle Existenz gesichert ist, können traditionelle Werte und Erziehungsziele bei der Jugend bewusst gelegt werden (vgl. Kössler 1979, S.31, 71).

In meiner Arbeit soll die Darstellung der Mädchenerzie­hung im historischen Kontext nicht als Selbstzweck ver­standen, sondern im Vergleich zur heutigen Mädchenerzie­hung betrachtet werden. Insbesondere interessieren mich folgende Fragen: Warum können auch in unserer Zeit viele Frauen ihre Geschlechtsrolle nicht bejahen, obwohl sich die Lebenssituation der Frau seit Beginn des Jahrhunderts grundlegend verändert hat? Warum kämpfen manche Vertrete­ rinnen des weiblichen Geschlechts – trotz ihrer heute in allen Lebensbereichen weitgehend erreichten Gleichstel­lung mit den Männern derart verbissen gegen diese, statt als ebenbürtige Partner mit ihnen zu kooperieren?

In Kapitel 2 werde ich zunächst das um 1900 vorherrschen­de Frauenbild und die Ziele der damaligen bürgerlichen Mädchenerziehung darstellen. Dabei stütze ich mich auf die historischen Werke von August Bebel, Simone de Beau-voir, Susanne Engelmann sowie auf neuere Schriften von Gottfried Kössler, Ursula Blasser, Franziska Gerster und Karin Hausen. Sie alle haben die Situation des Mädchens jener Zeit in unserem Kulturraum wiedergegeben – in Fami­lie, Schule und Gesellschaft. Um den Erwerb der Mädchen­rolle von damals mit der heutigen Erziehungssituation vergleichen zu können, werde ich die Untersuchungen von Marianne Grabrucker und Ursula Scheu aus neuerer Zeit miteinbeziehen.

Bei all diesen Autoren, welche sich teils zu Beginn unse­res Jahrhunderts, teils in der heutigen Zeit mit der Rol­le der Frau in unserer Kultur auseinandergesetzt haben, habe ich wertvolle Hinweise zum Verständnis des Ge­schlechtsrollenerwerbs im familiären und kulturellen Um­feld gefunden. Während die einen allein in der kapitali-stischen bzw. patriarchalischen Gesellschaftsordnung und der darin herrschenden Arbeitsteilung zwischen den Ge­schlechtern die Ursache der unbefriedigenden Lage der Frau zu erkennen glauben, beziehen andere neben der kul­turellen Situation auch das familiäre Umfeld als mehr oder weniger essentiellen Aspekt der Erziehung zur Frau mit ein.

Auf die umfassendste Betrachtungsweise dieser Problematik bin ich anhand meines vertieften Studiums von Alfred Adlers Individualpsychologie gestossen. Sie verbindet historisch-kulturelle, familiäre, pädagogische sowie individuelle Faktoren zu einem einheitlichen Ganzen. Zum einen betrachtet Adler die Erziehung des Mädchens zur Frau auf dem Hintergrund einer vom Mann dominierten Gesellschaft, zum anderen fasst er auch das ganze fami­liäre Beziehungsnetz ins Auge, durch welches das einzelne Mädchen in seinen frühesten Kindheitsjahren geprägt wird. Hier sieht die Individualpsychologie den Ansatzpunkt für weitreichende pädagogische Möglichkeiten der Eltern oder Erzieher. Als dritten wesentlichen Aspekt bezieht der Individualpsycholge Adler die unbewusste Verarbeitung und Interpretation der Erlebnisse in Familie und Gesellschaft durch das kleine Kind mit ein: Erst dessen individuelle Eigenleistung rundet die Entwicklung zu einer einheitlichen Persönlichkeit ab. Untrennbarer Teil davon ist nach Adler sein Selbstverständnis als Mann bzw. Frau im gesellschaftlichen und familiären Umfeld.

An die Darstellung der Mädchenerziehung um 1900 lässt sich Adlers Sicht des Geschlechtsrollenerwerbs nahtlos anschliessen, hat er sich doch seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer differenzierter mit dieser Problematik beschäftigt. Gleichzeitig weist Adlers Persönlichkeitstheorie aber auch in unsere Zeit hinein: In vielen seiner zahlreichen, sorgfältig gesammelten Fall­beispiele und den theoretischen Ausführungen dazu wird sich auch der heutige Mensch – ob Mann oder Frau – wie­derfinden können. Als Ergänzung aus Adlers Zeit werde ich das Buch der Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel zur Frauenfrage beiziehen, und zur Verdeutlichung der Gültigkeit von Adlers Betrachtungsweise des Geschlechtsrollenerwerbs auch für unsere Zeit Vergleiche mit den mo­dernen Untersuchungen von Grabrucker und Scheu ziehen. Zum besseren Verständnis der folgenden Kapitel folgen in Kapitel 3 zunächst die wichtigsten Grundlagen von Adlers Theorie. Im 4. Kapitel schliesst Adlers Auseinandersetzung mit der historisch-kulturellen Situation der Frau an, die er mit der Lage des einzelnen Mädchens untrennbar verknüpft sieht. Damit sind die Grundlagen für die Dar­stellung der Persönlichkeitsentwicklung des kleinen Mäd­chens in der Familie gelegt {siehe Kapitel 5). Die pädagogischen Möglichkeiten des Erziehers, zur Stärkung der Persönlichkeit des Mädchens und zu einer verbesserten Be­ziehung zwischen den Geschlechtern beizutragen, sind ebenfalls Inhalt dieses Kapitels. Mit einem zusammenfas­senden Ausblick soll meine Arbeit abgerundet werden.

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