«Geboren im 19. Jahrhundert. Geschichten von fünf Puschlaver Frauen»

Zum Buch von Silva Semadeni

von Eliane Perret

Zeit-Fragen, 27. Juni 2023

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Semadeni, Silva. Geboren im 19. Jahrhundert.
Geschichten von fünf Puschlaver Frauen.
Enneda/ Chur: Somedia Buchverlag 2023.
ISBN 978-3-907095-64-5

Die Schweiz ist ein vielfältiges Land, geografisch, sprachlich und auch mit ihren geschichtlichen Gegebenheiten. Das Puschlav, ein italienischsprachiges Südtal Graubündens, hat eine eigene bewegte Geschichte. Wer mit der Berninabahndurch dieses schöne Tal nach Tirano in Italien fährt, unterbricht möglicherweise seine Reise in Poschiavo, um sich diesen Ort genauer anzuschauen. Vielleicht staunt er über die für ein Bergtal auffallend grossen, herrschaftlichen Häuser und fragt sich, warum das wohl so sei. Diese Palazzi bilden einen Strassenzug mit herrschaftlichen Villen am ehemals südlichen Ortsrand von Poschiavo. Sie gehörten heimgekehrten Puschlavern, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreiche europäische Länder, aber auch nach Russland, Australien, Nord- und Südamerika ausgewandert waren, wo sie erfolgreich als Zuckerbäcker und Cafetiers tätig waren. Sofern es die finanzielle Situation zuliess, liessen sie diese prächtigen Häuser errichten, in denen sie ihre Heimataufenthalte oder auch den Lebensabend verbringen konnten. Das Buch von Silva Semadeni «Geboren im 19. Jahrhundert. Geschichten von fünf Puschlaver Frauen» geht auf Spurensuche in dieser Zeit.

Am Anfang war ein Bild

Anlass für das Buch gab eine Fotografie, vermutlich aus dem Jahr 1884, mit fünf Frauen. Sie stammen aus dem Puschlav und gehören drei Generationen an. Das Bild hing zuerst in der Stube der Urgrossmutter von Silva Semadeni, dann bei ihrer Grossmutter Lilia, und heute ziert es den Flur der Autorin in Chur. Wer waren die Abgebildeten wohl? Wie sah die Welt aus, in der sie lebten, und wie gestalteten sich ihre Lebenswege? Diese Fragen weckten das Interesse der Autorin und sie suchte nach Spuren von ihnen. Es waren aufwendige Recherchearbeiten nötig, denn die Autorin wollte sich nicht in Vermutungen verlieren oder einen historischen Roman verfassen, sondern mit Hilfe von überprüften Fakten den Lebenslauf der Frauen erforschen. Direkte Quellen gab es nur wenige. Doch aus Fotos, Briefen, Informationen aus Zeitungen und offiziellen Dokumenten in Kirchenarchiven und Registern im In- und Ausland ergab sich schliesslich eine Vielzahl von kleinen Mosaiksteinen, mit denen sich die Lücken mindestens teilweise schliessen liessen.

Es geht um Orsola Lardelli-Lardelli (1816–1890), sie ist die älteste der Frauen. Ihre Tochter Angelina Olgiati-Lardelli (1840–1890) wiederum ist die Mutter von Leonita Jochim-Olgiati (1860–1936), ebenfalls abgebildet sind Eugenia Semadeni-Olgiati (1863–1929) und schliesslich Angelina Pozzi-Olgiati (1869–1956), die Urgrossmutter der Autorin. Die fünf Frauen gehörten den eher privilegierten Zuckerbäcker-Dynastien an, die aus verschiedenen Bündnertälern auswanderten und dank ihrer spezialisierten Berufszweige über 150 Jahre lang Cafés und Konditoreien in Städten von Polen bis Portugal betreiben konnten.

Eine vergangene Welt

Die Autorin beschreibt in einem ersten Teil das geschichtliche und wirtschaftliche Umfeld ihrer Protagonistinnen. Das Puschlav erlebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwierige Zeiten. Eine Hungersnot (1816–1817) und verheerende Überschwemmungen (1834) belasteten das Leben der Menschen sehr. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine wichtige wirtschaftliche und politische Entwicklung ein, und positivere Lebensperspektiven eröffneten sich. In den Jahren 1825 und 1830 wurden erste Schulen eröffnet. Sie waren konfessionell getrennt, was den damals in der Bevölkerung fest verankerten konfessionellen Grenzen Rechnung trug. In dieser Zeit wurde auch die Berninastrasse gebaut (1845–1862), welche für das bis dahin abgelegene Tal neue Möglichkeiten eröffnete. 1887 erhielten die Haushalte Trinkwasser, und 1891 wurde das Dorf an den elektrischen Strom angeschlossen. Es war dieses gesellschaftliche Umfeld mit grossen Veränderungen, in dem die fünf Frauen aufwuchsen (die drei jüngeren erlebten auch noch Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Entscheidend für ihre Lebensgestaltung waren jedoch die durch die Auswanderung bestimmten Erfahrungen des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu anderen Teilen der Schweiz war es im Puschlav nicht unbedingt die Armut, welche die Menschen zum Weggehen motivierte, sondern ihre Zugehörigkeit zur reformierten Minderheit. Sie blieben jedoch Zeit ihres Lebens mit dem Puschlav verbunden und verbrachten immer wieder kürzere oder längere Zeit oder auch ihren Lebensabend in ihrer Heimat.

Fünf Frauen – fünf Lebenswege

Die Autorin zeichnet die Lebenswege der fünf Frauen nach, wie sie sie aus den gefundenen Quellen erschliessen konnte. Sie können hier nicht genauer ausgeleuchtet werden, doch einige Hinweise auf die Älteste der Abgebildeten sollen neugierig machen. Das Jahr 1816, als Orsola Lardelli-Lardelli, die älteste der fünf Frauen, das Licht der Welt erblickte, ging als «Jahr ohne Sommer» mit einer damit verbundenen Hungersnot in die Geschichte ein (bedingt durch den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora). Ihr Vater war kurz zuvor vorübergehend aus Dänemark heimgekehrt, wo er in Kopenhagen eine Konditorei betrieb. In seiner Heimat ereilte ihn dann ein tragischer Unfalltod. Was für ein Schicksalsschlag im Leben der jungen Familie!

Einige Jahre später führte sie der Weg zurück nach Kopenhagen. Dort heiratete Orsola später ihren ebenfalls aus dem Puschlav stammenden Cousin (was durchaus üblich war). Er war fern der Heimat als Konditor in die Fussstapfen seines Vaters getreten. Finanziell hatte er keine geschickte Hand und musste seine Konditorei schliessen. Die Familie kehrte vorerst in die Heimat zurück, bevor der Ehemann und Vater weiter nach Pamplona in Spanien zog. Vor ihm waren schon andere Puschlaver in den Süden gezogen, so gab es in Pamplona (und anderen Orten) ein Café Suizo. Eine Spezialität waren auch die bollos suizo, Brötchen mit Zuckerkruste, die zum Frühstück oder als Zwischenverpflegung gereicht wurden und bis heute beliebt sind.

Orsolas Ehemann betrieb in diesem kleinen Städtchen am Fusse der Pyrenäen ein Café. Einige Zeit später folgte ihm auch seine Frau Orsola mit den Kindern. Hier begann eine neue Herausforderung für die Familie in einer Umgebung, die nur schon auf Grund der zwei Sprachen, des Baskischen und des Kastilischen, eine Herausforderung war. Leider verstarb das Familienoberhaupt bald. Zurück blieb seine junge Frau mit drei halbwüchsigen Kindern. Sie besass glücklicherweise bereits eine reiche Lebenserfahrung, war sie doch als Kind ausgewandert und kannte sich in den verschiedenen Kulturen Nord- und Südeuropas aus. Sie sprach Italienisch und den Puschlaver Dialekt, verstand Dänisch, Deutsch und ein wenig Spanisch und Baskisch. Im Register der Geschäftsleute von Pamplona wurde sie als Cafetera, als Betreiberin eines Cafés aufgeführt. Um die Verbindung zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten, nahm sie wochenlange Reisen zu Fuss, in Kutschen oder Wagen, mit dem Schiff und später mit den ersten Eisenbahnen auf sich.

Pamplona blieb aber ein wichtiger Lebensmittelpunkt, bis sie nach Jahren in ihren Geburtsort Poschiavo zurückkehrte, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Auch von ihrer Tochter Angelina führen Spuren nach Poschiavo, denn ihr Ehemann liess dort ein Herrenhaus bauen. Es ist einer der eingangs erwähnten Palazzi. Er hatte damit das begehrteste Ziel der Auswanderer erreicht, und fortan konnte die Familie ihre Heimataufenthalte in angenehmer Umgebung verbringen. Doch ereilte die Familie in anderer Weise ein schweres Schicksal, denn acht ihrer elf Kinder starben. Heute kaum mehr vorstellbar! Unter den überlebenden Kindern waren Leonita, Eugenia und Angelina (die Urgrossmutter der Autorin). Auch ihnen widmet Silva Semadeni ein je eigenes Kapitel, das ihre Lebenswege auf den Schauplätzen in Spanien und im Puschlav nachzeichnet.

Das Geheimnis der Fotografie ist gelüftet

Dank intensiver Recherchen konnte sich die Autorin dem Lebensweg der fünf Frauen nähern. Wenigstens teilweise, denn dieses Vorhaben stellte sich als viel komplexer heraus, als ursprünglich vermutet. Die Frauen stehen im Mittelpunkt des Buches, wie sie mutig in fremde Länder auswanderten und sich in Kopenhagen, Pamplona oder Vigo (in Galizien an der spanischen Atlantikküste) an neue sprachliche, soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten anpassen mussten. Die Autorin bezieht jedoch stets das familiäre und soziale Umfeld mit ein. Es sind wichtige Ergänzungen, die ein reichhaltigeres und umfassenderes Bild möglich machen und dem Buch Substanz geben.

Aus der Chronik der Ereignisse können die Lebensumstände der fünf Frauen und ihrer Familien nachgezeichnet werden. So wird es zu einem wichtigen Zeitdokument, gerade auch durch die vielen Fotos, die das Buch bereichern, wie auch die allgemeinen Ausführungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, technischen Erfindungen oder wirtschaftlichen Begleitumständen, welche die Zeit prägten. Die inneren Beweggründe der beschriebenen Personen zu erschliessen, eröffnet für Leserinnen und Leser ein breites Feld. Das macht die Lektüre zusätzlich interessant, auch wenn es eine gewisse Beharrlichkeit verlangt, um die vielen ähnlichen oder gar gleichen Vor- und Familiennamen zuordnen zu können. Die akribisch erstellten Stammbäume der verschiedenen Familien sind eine wichtige Unterstützung dazu.

Eine Epoche geht zu Ende

Ende des 19. Jahrhunderts ging diese Ära in der Geschichte der Schweiz, speziell im Puschlav, zu Ende. Für den Leser erschliesst das Buch einen vertieften Einblick in die sozialgeschichtlichen Entwicklungen, die sich in ähnlicher Weise auch in anderen Tälern des Kantons Graubünden abspielten. Wer sich für solche Zusammenhänge interessiert und Freude an einem schön gestalteten Buch hat, wird sich gerne in «Geboren im 19. Jahrhundert. Geschichten von fünf Puschlaver Frauen» von Silva Semadeni vertiefen.  •

Das Haus der Familie von Tomaso und Angelina Olgiati-Lardelli in Poschiavo, heute Gemeindehaus. 
(©iStoria Poschiavo)

Orsola Lardelli-Lardelli (1816-1890) ist mit ihrer Mutter Barbara als Kind nach Kopenhagen ausgewandert und lebte später mit ihrem Ehemann Giovan Giacomo in Pamplona/Spanien. 
(©Silva Semadeni)

Bevor Giovan Giacomo Lardelli-Lardelli sein eigenes Café eröffnete, arbeitete er zehn Jahre im Café Suizo der Matossi Cia. 
(©Silva Semadeni)