Assistierter Suizid und Autonomie – ein Widerspruch?
Das Konzept der »freien« Entscheidung zum Suizid
im Lichte von anthropologischen, entwicklungspsychologischen und psychotherapeutisch-psychiatrischen Befunden
Raimund Klesse, Martin Teising, Ute Lewitzka, Peter Bäurle, Luc Ciompi, Georg Fiedler, Isabella Justiniano †, Thomas Kapitany, Reinhard Lindner, Susanne Lippmann-Rieder, Thomas Niederkrotenthaler, Christa Rados, Barbara Schneider & Manfred Wolfersdorf
In psychosozial 45. Jg. (2022) Heft III (Nr. 169)
Zusammenfassung: In verschiedenen Ländern wird ein »Recht auf assistierten Suizid« an‐ genommen und rechtlich garantiert. Dies wird begründet mit der Annahme, Wünsche nach assistiertem Suizid seien wohlüberlegte, autonome und selbstbestimmte Entscheidungen. Der vorliegende Artikel stellt das vorherrschende Autonomieverständnis anhand grundlegender Erkenntnisse der Anthropologie, Kulturanthropologie, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Ent‐wicklungspsychologie, Psychiatrie und Psychotherapie infrage. Das Konstrukt der Freiverant‐ wortlichkeit beim assistierten Suizid entspricht nicht der tatsächlichen Entwicklung suizidaler Krisen mit ihren nachvollziehbaren bewussten und unbewussten Motiven. Auch Entscheidun‐ gen zum assistierten Suizid erfolgen im zwischenmenschlichen Bezug. Anhand von Beispielen werden Psychodynamik und Therapiemöglichkeiten suizidaler Entwicklungen sowie Aspek‐ te der Suizidprävention dargestellt. Der suizidfördernde Einfluss der Suizidassistenz wird beschrieben. Folgerungen für die Suizidprävention auf individueller Ebene und notwendige Voraussetzungen für die Entwicklung eines antisuizidalen gesellschaftlichen Klimas werden formuliert.